von Amelie Honsuki

Kai läuft die letzte Strecke des Weges, seine Zielgerade. Genau eine dreiviertel Stunde durch das Dorf wie jeden Morgen. Die Sonne ist aufgegangen, der Klatschmohn wispert im Wind mit den Kornblumen, die hochnäsigen Ähren verstehen kein Wort und zischeln dazu als er am Feld vorbeikommt.

Er klingelt bei Ludwig, jeder kennt jeden. Nach dem Briefeaustragen muss er sofort in den Stall.

Ludwig öffnet. Er hat Druckerschwärze an den Fingern, wodurch seine Fingerkuppen wie abgestorben aussehen. Er gibt den Brief an Ludwig und nimmt die Dorfzeitung entgegen. Ludwig sieht ihn nicht an, zuppelt an seinem Mantel. „Mach schon, ich habe es eilig!“

Kai lächelt und dreht sich mit einem höflichen „Schönen Tag noch!“ ab.

Ludwig ruft ihm hinterher: „Den werde ich haben und eine schöne Zeit! Nimm´s nicht so schwer, Kai!“

Kai kommt an das Haus, was ihm am vertrautesten ist. Er klingelt. Kleine Fußtrappelei klingt ihm durch den Flur entgegen, vom Stall her hört er das Muhen der unruhigen Berta. Es ist Melkzeit.

Die kleine Frieda öffnet und schaut ihn mit verweinten Augen an. An ihrer Hand hält sie ihren jüngeren Bruder, der laut greint.

„Wo ist denn Eure Mutter?“, fragt Kai. Frieda stammelt schluchzend: „Sie ist mit drei Koffern weg, hat Schimpfe gemacht und ein Blatt Papier für dich in die Küche gelegt.“

Kai betritt das Haus, nimmt Frieda und Paul auf den Arm und geht in die Küche, wo er sie wieder absetzt. Auf den Tisch wirft er die Dorfzeitung und greift die Papierseite.

Kai, mach´ jetzt kein Drama. Ich habe es satt, die Kinder sind genauso anstrengend wie das Vieh, ich habe einen Mann, der morgens um vier aus dem Bett kriecht, in den Stall geht und von dort zur Arbeit! Von der Arbeit wieder in den Stall und am Abend nur noch schnarchend ins Bett fällt. Ich gehe! Ich habe meine Erfüllung mit Ludwig gefunden. Suche uns nicht. Ich habe ein Recht auf ein Leben in Glück und Frieden. Das Sorgerecht übertrage ich dir. Ich bin nicht zur Mutter geboren. Ludwig hat im Lotto gewonnen und ermöglicht mir nun das Leben, was mir zusteht. Gerda

Kai lässt den Zettel fallen, setzt sich auf einen Küchenstuhl, atmet keuchend. Ihm wird schlecht. Als er vor sich hinstiert, hört er wieder das ungeduldige Muhen und sein Blick fällt auf die Headline der Dorfzeitung.
Seine Kinder umfassen seine Beine und weinen.

„Letzte Ausgabe, Leute! Gerda und ich verlassen das Dorf. Unterstützt den Kai! Und nichts für ungut!“

Eine schwarze Wolke verdunkelt den Tag und erste dicke Tropfen klatschen gegen das Küchenfenster.

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