Von Anne Klisch

Draußen war es stock finster. Obwohl es erst halb fünf war, konnte er nur den kleinen Ausschnitt auf der Straße sehen, der von den Scheinwerfern des Postautos erhellt wurde. Es war so dunkel, dass er sogar die laute Musik herunter drehen musste, die den ganzen Wagen ausfüllte. Sparen war ja schon sinnvoll im Moment, aber musste das auch auf die Straßenlaternen ausgeweitet werden? Die großen Maschinenhallen drüben im Industriegebiet waren alle hell erleuchtet, aber hier in der Wohnsiedlung drang kein Licht auf die Straßen. Alles dunkel: die Laternen, die Fenster, die Flure. Klar, die Firmen mussten ihren Strom selbst bezahlen, das war der Stadt egal. Die Häuser hier waren privat und die Straße städtisch, da war das eben anders. Schon seit ein paar Tagen arbeitete er mit Stirnlampe, damit er die Post zumindest beim richtigen Haus abgab, aber wirklich Spaß machte das ganze nicht mehr.

Seufzend blickte er hinunter in die Lichtkegel und tuckerte weiter in Schrittgeschwindigkeit durch die 30-er Zone. Plötzlich huschte ein kleiner dunkler Schatten durch den Lichtkegel. Panisch stieg er in die Bremsen. Was war das? Ein Hund? Aber er konnte gar nichts hören. Lag vielleicht auch an dem schrillen Piepsen, dass gerade seinen Kopf ausfüllte. Es war noch so viel zu tun! Aber nachsehen musste er trotzdem..
Etwas schwindelig von dem Schreck öffnete er die Autotür und stieg aus, um unter das Fahrzeug zu sehen. Zittrig knipste er die Stirnlampe an und starrte blinzelnd in das grelle Licht. Kein Hund. Das war schon mal gut. Auch keine seltsamen Spuren, oder sonst etwas. Vielleicht hatte ihm auch nur die Müdigkeit einen Streich gespielt. Er wollte sich gerade wieder aufrichten, als plötzlich.. „Was machst du da?“ .. ein kleines Gesicht neben seinem auftauchte.
Erschrocken sprang er auf und stieß sich prompt den Kopf am Außenspiegel. Vor ihm stand ein kleines Mädchen. Sie war vielleicht fünf. Die dunklen Haare lagen lang und offen über ihren Schultern, wie ein Zelt. Sie sah aus wie ein kleines dunkles Nachtgespenst. 

„Was?“, antwortete er und rieb sich die pochende Stelle am Kopf. Er war sich ganz sicher, dass sie vor sein Auto gerannt war. Und das war dann doch ein bisschen schlimmer, als der Hund. „Du solltest vorsichtig sein, wenn du hier im Dunkeln auf der Straße spielst. Am Ende wirst du noch verletzt.“ Oder ich komme vor Gericht, dachte er, sagte es jedoch nicht.

„Hab ihn!“, rief dann eine weiter Kinderstimme aus dem Gebüsch. Es raschelte und man hörte angestrengtes Keuchen, dann huschte ein Junge, vielleicht acht Jahre alt, um das Postauto herum. Er hatte einen
kleinen pinken Ball unter dem Arm und rieb sich die Hände an den Hosen ab. „He, was machen Sie denn da! Komm her Mariell!“ Die Scheinwerfer eines Autos bogen um die Ecke, ohne Rücksicht auf Etikette zog der Postbote beide Kinder am Kragen hinter das Postauto. Der fremde Fahrer rauschte ohne zu bremsen vorbei.

„Ihr solltet bei der Dunkelheit wirklich nicht auf der Straße spielen! Wo ist denn eure Mama?“

„Im Keller, sie macht…“, begann die kleine Mariell, doch ihr Bruder legte schnelle eine Hand über ihren Mund, wodurch der Rest in unverständlichem Genuschel endete. 

„Warum wollen Sie das wissen?“
Ja ja, mit Fremden redete man nicht. Guter Junge. Trotzdem machte ihn die ganze Sache wütend. Wie konnte man nur so fahrlässig sein? Was war so wichtig, dass sie ihre Kinder nicht mehr im Blick hatte? Oder war das vielleicht die Aufgabe von Papa, aber der lag schon betrunken auf der Couch? Ein Zustand den sich der Postbote selbst gerade absolut herbeisehnte. Wobei er nicht sicher war, ob Bier heute reichen würde. „Weil ich euch zu Hause abgeben will, damit hier heute Nacht nichts mehr passiert!“

„Wir wohnen da drüben“, sagte die kleine Mariell, nachdem sie sich aus dem Griff ihres Bruders befreit hatte und zeigte auf eines der dunklen Häuser, auf der anderen Straßenseite. Vertrauensselig wie Kinder nun einmal sind, schob sie ihre kleine Hand zwischen die Finger des Postboten. Artig sah sie nach rechts und links und führte ihn dann hinüber zum Gartenzaun. Der Junge trottete murrend hinter ihnen her. Der Postbote konnte ihn verstehen, er fand auch nicht dass das seine Aufgabe war. Aber er hatte auch keine Lust auf Kindergedärme an seiner Stoßstange..
Das Mädchen führte ihn in den Garten hinter dem Haus und eine steile feuchte Treppe hinunter zur Hintertür. Durch die kleine Milchglasscheibe im Holz drang Licht heraus. Das erste Licht seit Stunden, wie ihm schien. Innerlich bereitete er sich darauf vor einer überarbeiteten Frau, die gerade auf Knien vor der Waschmaschine kauerte, ihre Kinder zurück zu bringen. Mariell bemühte sich an die Klinke zukommen und zog den kurzen Metallriegel nach unten. Die Tür sprang knarzend auf und gab die Sicht auf eine ausgebaute Waschküche frei. Wäsche suchte man darin allerdings vergebens. An den Wänden waren Regale, über schmalen Arbeitstischen angebracht und in der Ecke stand eine seltsame summende Maschine.

„Mama!“, rief die kleine Mariell und wollte in den Raum rennen, doch die Hand des Postboten, war um ihre kleinen Finger eingefroren. Über ihrer Schulter streckte der Bruder den Kopf durch die Tür. 

Im hinteren Bereich des Raumes stand eine Person in einem grell gelben Overall mit einem riesigen Hut, der aussah, wie der eines Imkers, nur dass er bis auf ein kleines Fenster an der Vorderseite, aus dem selben gummierten Material bestand, wie der Anzug. Erschrocken drehte sich die Gestalt um. Durch das Plastikfenster des Anzugs waren große Augen in einem blassen Gesicht zu erkennen. „Leon, was mach ihr hier? Ich hab doch..!“ Sie stockte und schüttelte kurz den Kopf, dann fiel ihr Blick auf den Postboten. „Raus hier, allesamt!“

„Was ist das?“, fragte der Postbote, mit großem Unbehagen in der Stimme und starrte auf den grünlich leuchtenden Stab, den die Frau in einer langen Metallzange vor ihrem Körper hielt.

„Wird‘s bald!“, zischte sie, während die kleine Mariell an seiner Hand zog: „Mami macht Strom!“
Dem Postboten wurde schlecht. Er war allerdings nicht sicher, ob es an der Situation und der plötzlichen Überforderung lag, oder ob das schon die Auswirkungen der Strahlung waren. Kalter Schweiß rollte über seine Haut und tropfte von seiner Nase. „Dürfen Sie das überhaupt?“, fragte er wenig einfallsreich, obwohl er die Antwort schon kannte. Nein.

„Keine Sorge, ich weiß schon was ich tue“, sagte die Frau etwas hochnäsig und begann den Brennstab zu sichern. Der Postbote schluckte. Wieso war sie so entspannt? Das hier war total illegal! 

„Ich glaube ich rufe jetzt erstmal die Polizei“, sagte er, mehr zu sich selbst, als zu der Frau und dachte an sein Handy, das zusammen mit seinem Geldbeutel im Postauto eingeschlossen war, als sich plötzlich ein kräftiger Arm um seinen Hals legte. „Das würde ich lassen“, sagte eine tiefe Stimme. Der Postbote erstarrte erneut zur Salzsäule. Der kräftige Arm zog sich immer fester und schnürte ihm die Luft ab. Sein Kopf knickte nach hinten und seine Füße verloren den Kontakt zum Boden. Langsam wurde er aus der Waschküche gezerrt und dann wurde es plötzlich schwarz vor seinen Augen.

Als er wieder zu sich kam, lag er in einem hell erleuchteten Zimmer auf einem weißen Sofa. Lange schwarze Haare kitzelten seine Stirn. 

„Hallo“, sagte eine Kinderstimme. Der Postbote stöhnte. Sein Hals war so rau und sein Mund ganz trocken. Schlecht war ihm auch ein bisschen. 

„Der gelbe Mann ist wieder wach!“
Erschrocken setzte er sich auf, als plötzlich die Erinnerungen seine Gedanken fluteten. Er musste ganz schnell hier weg. Und dann würde er die Polizei rufen!
Am Tisch in der Mitte des Raumes saßen ein Mann, eine Frau und der kleine Leon. Alles ganz normal. Sie sahen nicht besonders aus. Nicht besonders skrupellos, nicht besonders gemein und auch nicht, wie das klassische geniale Verbrecher-Duo.

„Wie schön!“, sagte die Frau mit fröhlicher Stimme. „Dann bringen wir ihn doch zu seinem Auto, nicht Mariell?“ In ihren Augen lag ein seltsames Funkeln. Wollte sie ihn tatsächlich einfach gehen lassen? Das war doch nicht rational! 

Als sie ihm die Tür öffnete, waren die Straßenlaternen an und sein Postauto stand unversehrt mit Warnblinke am Straßenrand, genau da, wo er es zurück gelassen hatte. Hatte sie die Laternen angemacht? Oder war das die Stadt gewesen? Skeptisch sah er die Frau an, die hinter ihm in der Tür stand. 

„Was man nicht alles tut für die Sicherheit der Kinder, nicht“, sagte er vorsichtig in die seltsame Stille hinein.

„Ja“, die Frau lächelte. „Wir wollen ja nicht, dass jemand zu Schaden kommt, richtig Vincent?“
Die Augen des Postboten weiteten sich nur kurz, doch er hatte verstanden. Keine Schwäche zeigen. Er schluckte den Schreck und das Entsetzen herunter, packte die Drohung in seine hintere Hosentasche und nickte kurz, dann huschte er hinaus zu seinem Auto.
Wäre er bloß nicht ausgestiegen! Wie gerne hätte er jetzt dem Nachbar erklärt, dass er in der Dunkelheit seinen Hund überfahren hatte..

 

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