Von Franck Sezelli

 

Katrin starrte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen. Sie musste die Nachricht erst verarbeiten, die sie am Morgen erfahren hatte. Markus wollte seinen Aufenthalt verlängern. Angeblich musste er, hatte er ihr bei ihrem Videotelefonat fast entschuldigend erklärt. Gerade jetzt, wo sie sich so auf seine Rückkehr gefreut hatte. Es war aber wirklich nicht leicht, mit den beiden Jungen allein zu sein. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihren Vater vermissten und auch deshalb in letzter Zeit zu ihr immer frecher wurden. Gar nicht mehr die lieben Kleinen, die so gern mit ihr schmusten.

Sie riss sich aus ihren düsteren Gedanken und widmete sich wieder ihrem Teller. Ihr fiel auf, dass Florian nur noch in seinem Essen herumstocherte. »Was ist mit dir, Flori? Schmeckt es dir nicht?«

Florian war nun schon die zweite Woche zu Hause. Er hatte vorige Woche plötzlich hohes Fieber bekommen, sodass die Ärztin ihn für vierzehn Tage krankgeschrieben hatte. Jetzt fühlte er sich aber schon lange wieder gesund, musste aber noch zu Hause bleiben. Zum Glück war schon Freitag, nach dem Wochenende konnte er wieder in seine geliebte Kita gehen.

Während er weiter mit seiner Gabel auf dem Teller hin- und herfuhr, antwortete er missgelaunt seiner Mutter: »Nee, das schmeckt überhaupt nicht! Das ist voll eklig!«

Erstaunt und ärgerlich fragte sie: »Was? Du hast das doch immer gern gegessen. Erst letzte Woche hast du noch mehr verlangt.«

»Du lügst … ich esse gar kein Brokkoli! Immer dieses eklige Zeug!«

»Aber Florian! Ich habe das heute extra deswegen gekocht, weil du das sonst immer so gern gegessen hast. Außerdem ist es sehr gesund, voller Vitamine!«

»Bäääh! Das schmeckt aber überhaupt nicht, du kannst gar nicht richtig kochen!« Wütend schaute er seine Mutter an.

Da war es dann passiert.

*

Nachdem Simon am späten Nachmittag aus der Schule gekommen war, er besuchte eine Ganztagsschule, schlich sich Florian in das Zimmer seines großen Bruders. Der schloss ihn in seine Arme und fragte: »Du siehst so traurig aus, was ist denn?«

Da brach es aus dem Vierjährigen heraus. Schluchzend stammelte er: »Mama hat mich gehauen …«

»Was? Warum denn? Das macht sie doch nie. Wie hat sie dich gehauen?«

»Hier auf den Kopf, mit den Fingern.«

»Zeig mal, tut es weh?«

»Nein. Es hat auch nicht richtig weh getan, aber ich musste ganz sehr weinen.«

»Und warum hat sie das getan? Was hattest du gemacht?«

»Gar nichts! Mir hat bloß das Essen nicht geschmeckt.«

Der achtjährige Simon zog die Stirn kraus und überlegte. Dann beriet er sich flüsternd mit seinem kleinen Bruder.

*

Der Postbote las das Schild an der Gartenpforte: »M. u. K. Krass«. Das war es. Er war noch neu hier, war erst kürzlich hergezogen und hatte zum ersten Mal die Samstagsroute übernommen. Als er keine Klingel an der Pforte fand, öffnete er sie und ging zur Haustür, an der er klingelte.

Ein kleiner Junge öffnete ihm und schaute ihn neugierig an.

»Ich habe hier Post für deine Mutter, kannst du sie mal holen?«

Florian rief in den Korridor hinter sich: »Simon! Komm mal!«

Der Postbote stand nun zwei Jungen gegenüber und fragte: »Könnt ihr eure Mutter rufen?«

»Nein!«, antwortete der große Junge.

»Ist dann vielleicht euer Vater da?«

»Nein, der ist in Burundi.«

»In Burundi, das ist doch in Afrika. Aber so seht ihr gar nicht aus, als ob euer Vater aus Afrika kommt.«

Da lachten die beiden und konnten sich gar nicht richtig beruhigen.

Der Kleine fing sich zuerst und sagte: »Quatsch, der arbeitet bloß dort. Er hilft der Welt hungern …«

Simon unterbrach seinen Bruder: »Du erzählst einen Unsinn! Papa arbeitet bei der Welthungerhilfe und kümmert sich um die Schulspeisung in Vumbi. Das ist im Norden von Burundi. Wenn es in der Schule Essen gibt, schicken die armen Leute ihre Kinder dorthin. Und dann können sie lernen wie wir.«

»Manchmal ist er aber auch in Gitega«, ergänzt der Kleine naseweis, »das ist die Hauptstadt.«

»Das ist ja interessant!«, meinte der Postbote. Er schaut auf den großen Umschlag, den er in der Hand hält. »Deswegen kommt dieser Brief für eure Mutter aus Burundi. Da sind sehr schöne Briefmarken drauf.« Er fragt nun noch einmal: »Wo ist denn eure Mutter?«

»Die ist im Keller«, antwortet der Kleinere der beiden Jungen, worauf ihn der Große mit dem Ellenbogen anstieß.

»Na, da könnt ihr sie doch rufen«, sagt der Postmann.

»Nein!« Es klang trotzig, wie Simon das Wort ausstieß.

»Warum nicht?«, wunderte sich der Briefträger.

»Sie muss drinbleiben, wir haben sie eingesperrt«, erklärte der Große und der Kleine nickte heftig dazu.

»Ihr habt eure Mutter eingesperrt? Aber wie kommt ihr denn dazu?« Der Mann war entsetzt.

»Zur Strafe!«, sagte Simon, schon etwas unsicher. »Sie hat Flori geschlagen.«

»Wie geschlagen?« Der Postbote fühlte sich unwohl angesichts einer zu erahnenden Gewaltorgie.

»Na ja, so mit den Fingern auf den Kopf«, antwortete Simon und zeigte es an seinem Bruder.

»Aua! Bist du blöd! Doch nicht so derb!«

»Du hast von deiner Mutter eine Kopfnuss bekommen und dafür habt ihr sie eingesperrt?«

»Ja«, entrüstete sich der große Junge, »man darf Kinder nicht schlagen.«

Der Postangestellte verstand langsam, was hier vorgefallen war. »Aber deswegen könnt ihr doch eure Mutter nicht einsperren! Was wäre denn, wenn etwas passiert, ein Feuer ausbricht zum Beispiel? Wie lange ist denn eure Mutter schon eingesperrt?«

»Seit nach dem Frühstück, da wollte sie Kartoffeln holen und da haben wir zugeschlossen.«

»Für eine Kopfnuss ist das lange genug, denke ich. Zeigt mir mal euren Keller.«

*

 Die Kellertür wurde aufgeschlossen, die Mutter stürmte wütend heraus. »Was fällt euch denn ein! Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?«

Simon schaute zu Boden und druckste etwas herum. »Na, das war, weil du Flori gehauen hast.«

Die Mutter schaute verblüfft aus. »Ach, meinst du den Klaps, den ich ihm gestern gegeben habe, weil er beim Essen so frech zu mir war?«

»Ja, Flori war ganz traurig und hat es mir erzählt. Man darf Kinder nicht schlagen.«

»Das war ja kein Schlagen! Gut, ich hätte das vielleicht nicht machen sollen.« Sie wandte sich ihrem kleinen Sohn zu: »Du warst aber wirklich ziemlich unverschämt zu mir, das hat mich wütend gemacht. Bist du mir noch böse?«

Florian schüttelte den Kopf.

»Na, dann ist ja alles wieder gut«, war Katrin erleichtert. Jetzt erst bemerkte sie den Postboten, der sich im Hintergrund gehalten hatte. »Oh, entschuldigen Sie bitte! Vielen Dank, dass Sie mich gerettet haben. So etwas haben meine Kinder noch nie gemacht. Ich weiß gar nicht, was gewesen wäre, wenn Sie heute nicht gekommen wären.«

»Wie seid ihr denn überhaupt auf diese schlimme Idee gekommen, Simon und Florian?«, fragte sie streng ihre Söhne.

»Onkel Tim hat das gesagt auf der letzten Geburtstagsfeier, als ihr euch über Kinder unterhalten habt: Eltern können sogar eingesperrt werden, wenn sie Kinder schlagen.«

Da blieb Katrin erst einmal die Spucke weg, ehe sie verstand. Dann erklärte sie den Kindern, wie das gemeint war.

Neben dem noch schwelenden Ärger empfand sie auch ein wenig Stolz auf ihren großen Sohn wegen seines Gerechtigkeitsempfindens und seiner Beschützerrolle gegenüber dem kleinen Bruder. Die Jungen hatten ein Einsehen und versprachen, so etwas nie wieder zu machen.

Der Postbote schaute glücklich zu, wie sich die Familie wieder versöhnte und konnte nun endlich den großen Brief aus Burundi übergeben.

*

Zurück in der Postfiliale gab er die Geschichte allen zum Besten. Und so konnte man am Montag im Ortsblatt die Schlagzeile lesen: »Krass: Postbote fragt Kinder, wo Mama ist. Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet«.

 

 

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