Von Claudia Grothus
Leise summend lenkte sie ihren gelben VW-Bus über die Landstraße. Sie mochte die Vertretungstouren. Mal was anderes. Neue Menschen.
Ihr Laderaum war fast leer, der Feierabend nicht mehr weit. Sie freute sich. Heute Abend würde sie es sich mit ihren Katzen gemütlich machen und einen Film anschauen.
Sie bog an der Neubausiedlung in eine Sackgasse ein und ließ sich über die Bodenwellen aus rotem Klinker schaukeln. Um den Wendehammer standen im Halbkreis angeordnete Einfamilienhäuser mit ordentlich geschotterten Vorgärten. Thujahecken hielten das Fremde draußen und das Private drinnen.
In dem leeren Asphaltrund hielt sie am Bordstein an und blätterte routiniert die vorsortierten Sendungen durch. Nur ein paar Briefe und Zeitschriften. Für Nummer 18 ein Päckchen und ein Einschreiben.
Sie stieg aus, brachte zu Fuß die Briefe herum und ging dann zum Haus Nummer 18. Hinter den Thujen fand sie einen winterlich verwaisten Sandkasten mit ein paar liegengebliebenen Förmchen und einem umgekippten Bobbycar.
Das eigenhändige Einschreiben war vom Landgericht an eine Marnie Kraus adressiert. Solche Post überbrachte sie nicht gerne. Das war selten etwas Angenehmes. Sie war dann immer besonders nett zu den Leuten, um zu zeigen, dass sie keine Vorurteile hatte. Auf dem Päckchen stand in großen Buchstaben „Klebeshop“.
Sie drückte den silbernen Klingelknopf. Drinnen ertönte ein Gong in behäbigem Dreiklang. Eine helle Kinderstimme rief etwas Unverständliches.
Die Tür wurde geöffnet und es erschien ein Junge. Ein Teenager. Fast noch ein Kind, mit weichen, dunklen Locken, die ihm in die Stirn fielen. Groß, schlank, langes, gestreiftes Hemd. Er lehnte sich mit lockeren Schultern und den Händen in den Jeanstaschen an den Türrahmen. Schaute sie aus schmalen, hellblauen Augen abwartend an.
„Ich … habe hier ein Einschreiben.“ Sie registrierte verwirrt, dass sie sich anhörte, als hätte sie „Ich habe eine Melone getragen“ gesagt.
Der Junge zog die Brauen etwas höher. Das änderte kaum seinem Gesichtsausdruck. Er hatte die Wangen ein wenig zu den Unterlidern gezogen, als würde er ins Helle schauen, oder ihm etwas weh tun. Ständig wehtun.
Sie riss sich zusammen.
„Ein Einschreiben an Marnie Kraus und dieses Päckchen hier.“ Sie klang wie – eine Postbotin. Warum ärgerte sie das? Aber sogleich vergaß sie diesen Gedanken wieder, als sie den traurig-trotzigen Zug um seinen Mund wahrnahm. So ein junger, weicher Mund. Nur ein Schatten eines dunklen Flaums über der Oberlippe.
Der Junge stieß sich mit einer sanften Bewegung vom Türrahmen ab, nahm das Päckchen mit einer Hand an und schaute kurz auf den Absender.
Er ist so jung, dachte sie, dass er keine Ahnung hat, wie geschmeidig er sich bewegt. So einen Jungen, dachte sie, hätte sie noch nicht einmal bekommen, als sie selbst noch ein Teenager war.
Ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren tauchte in der Tür auf.
„Ist Marnie Kraus Eure Mutter?“
„Ja, aba sie is nich da“, lispelte die Kleine und hielt sich mit ihrer Faust an dem langen Hemd ihres Bruders fest.
„Oh, dann muss sie dieses Einschreiben in der Filiale abholen.“
Der Junge betrachtet immer noch das Päckchen in seiner Hand. Mit der anderen streichelte er gedankenverloren über das Haar seiner kleinen Schwester, die sich an sein Bein schmiegte. „Das geht nicht“, sagt er und schaute auf.
„Na ja, dann muss sie jemandem eine Vollmacht ausstellen.“
„Das geht auch nicht, sie ist nicht da und wird auch bis Ende der Woche nicht wiederkommen.“
„Und Euer Vater?“
„Der wohnt nicht mehr hier.“
„Ja, aber …“, sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Junge schaute ihr mit herausfordernder Miene in die Augen. So dunkle, dichte Wimpern – er hätte ein Vermögen als Mascara-Model verdienen können! Was starrte sie ihn so an?!
„Hör, mal, das hier ist wichtig. Es ist vom Gericht. Wo ist denn deine Mutter?“
„In Präventivhaft.“
„Was?“
„Sie hat sich auf der Autobahn festgeklebt.“ Er hielt das Päckchen vom Klebeshop hoch und wedelte damit ein wenig in der Luft.
„Au-do-bahn“, brabbelte das kleine Mädchen und hüpfte bei jeder Silbe auf und ab.
„Haben Sie noch nichts davon gehört?“ Der Junge zog erstaunt seinen Kopf ein wenig zurück. „Letzte Generation?“
Natürlich hatte sie davon gehört. Was dachte er von ihr?
„Aber wer kümmert sich denn jetzt um euch?“
Der Junge schaute sie intensiv an. Seine Mundwinkel hatten sich eine Winzigkeit abschätzig nach unten bewegt, als wollte er sagen: Ich bin sechzehn! Ich kann Staubsaugen und Frühstück machen. Und Spaghetti mit Tomatensauce kriege ich auch noch hin.
„Das geht doch nicht!“ Sie lief leicht rosa an. „Da muss sich doch jemand kümmern. Das Jugendamt oder irgendwelche Verwandten.“
„Ist das alles, worum Sie sich Sorgen machen?“, fragte der Junge ruhig und lehnte seinen Kopf ganz leicht auf eine Seite. „Wer sich um meine Schwester und um mich kümmert?“
Wie er das so sagte – „um mich kümmert“. Ihr wurde einen Augenblick heiß. Entsetzt schluckte sie, atmete schnell durch die Nase ein und riss sich zusammen. Suchte Zuflucht in der Empörung.
„Deine Mutter kann sich doch nicht einfach auf der Autobahn festkleben und riskeren, dass sie euch alleinlassen muss!“
„Was meinen Sie denn, was sie riskiert, wenn sie das nicht tut?“
Die Kleine ließ sein Hemd los und hüpfte ins Haus zurück. Der Junge lehnte sich, wie zu einem längeren Gespräch, mit dem Rücken an den Türrahmen, schob die Hüfte vor uns steckte die freie Hand in die Hosentasche. Lässig kreuzte er die Fußgelenke.
„Aber als Mutter kann man doch sowas nicht machen! Da muss man für seine Kinder da sein!“ Sie geriet ins Stammeln und hasste sich dafür.
„Oh, sie ist doch für uns da. Für unsere Zukunft. Meine kleine Schwester ist fünf. Wenn sie fünfundzwanzig ist, werden Sommer über 40 Grad normal sein. Es wird Kriege allein um Wasser geben. Millionen Flüchtlinge aus nicht mehr bewohnbaren Ländern werden nach Mitteleuropa strömen. Das Ökosystem der Meere wird kippen, Ernten werden ausfallen, Stürme und Überflutungen an der Tagesordnung sein. Ein Großteil der Wälder wird abgebrannt sein und sich in Wüsten verwandelt haben. Ich finde, unsere Mutter tut für uns das Allerbeste, was eine Mutter im Moment tun kann.“
Die Postbotin tippte mit hochrotem Kopf auf ihrem Scanner herum.
„Das ist nicht richtig. Ich finde das nicht richtig.“ Mehr fiel ihr nicht ein. Sie registrierte peinlich berührt, dass sie überhaupt keine Argumente hatte. Und sie wusste, dass sie jetzt rot anlief und er sie verachtete. Mit ungeschickten Fingern fummelte sie den selbstklebenden Ausdruck auf die gelbgerahmte Karte und steckte sie mit einer heftigen Bewegung in den chromglänzenden Briefkasten neben der Tür.
Gerade, wo sie sich umdrehte und gehen wollte, hielt ein schwarzer SUV neben ihrem Postauto. Eine attraktive Frau im langen Wollmantel, bepackt mit Einkaufstaschen, eilte den Plattenweg aufs Haus zu.
„Oh, mein Einschreiben“, rief sie, als sie den Umschlag vom Gericht sah. Sie griff danach, aber wie im Affekt zog die Postbotin den Brief zurück.
„Ich habe Ihnen soeben einen Abholschein ausgestellt. Ihr Sohn hat gesagt, sie wären im Gefängnis, weil sie sich auf einer Straße festgeklebt haben!“
Der Mutter blieb kurz der Mund offenstehen und sie starrte den Jungen an.
„Was?! Levi, bist Du irre? Warum erzählst du so etwas?“
Der Junge öffnete seine verschränkten Arme und hielt seiner Mutter das Päckchen hin.
„Ich wollte mal wissen, wie sich das anfühlt.“
Die Postbotin drehte sich puterrot um und stapfte mitsamt dem Einschreiben zurück zu ihrem gelben Auto, stieg ein, schlug die Tür zu, trat das Gaspedal durch und knallte ungesund über die Bodenwellen.
„Du bist so rücksichtslos!“, schrie Marnie ihren Sohn an und verschwand im Haus.
Levi blieb noch einen Augenblick draußen stehen.
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