Von Karl Kieser
In der Stadt mag es anders sein. Auf dem Lande habe ich als Postboote durchaus noch Einblicke in die intime Welt meiner Kunden. Manchmal bleibt sogar die Zeit für einen kurzen Plausch. Aber auch ohne den direkten Austausch bekomme ich zwangsläufig so einiges mit, eher ungewollt.
Einmal habe ich sogar einen Toten gefunden. Okay, es war ein alter Herr, dessen Zeit einfach abgelaufen war. Trotzdem, seither habe ich immer ein beklommenes Gefühl, wenn sich bei meinen alten Kunden nach dem Klingeln nichts rührt oder der Briefkasten nicht mehr geleert wird.
Noch tragischer empfinde ich die Dramen bei den jungen Ehepaaren. Hier geht es meist um Geld, manchmal auch um aushäusigen Sex oder sonstige Seitensprünge. So wie ich es bei Frau Mehlmann vermutete. Das Paar mit zwei kleinen Kindern – zwei und vier Jahre – ist erst kürzlich hierhergezogen. Ihren Mann habe ich noch nicht gesehen. Er arbeitet viel und ist selten zu Hause. Nur einmal habe ich ihn gehört, als ich auf meiner Runde ganz in der Nähe war.
Herr Mehlmann muss völlig außer sich gewesen sein. Ich konnte folgendes deutlich verstehen: „Das ist ja eine unglaubliche Schamlosigkeit. Mein Anwalt wird sich darum kümmern.“ Der Rest war deutlich leiser und nicht mehr verständlich.
Als dann noch Jochen Schätzlein, Installateur und berüchtigter Witwentröster, mit verdächtig derangierter Kleidung aus dem Haus der Mehlmanns stürzte, habe ich mir den Rest zusammengereimt.
‚Oh je‘, dachte ich bei mir ‚wieder eine Familie, bei der die Ehe am Abgrund steht,‘ Hatte der Ehemann Verdacht geschöpft und war zur Unzeit zu Hause erschienen? Es gibt ja so viele Fallstricke, die das Zusammenleben beschwerlich machen können.
Diese Erkenntnis deprimiert mich immer. In diesem Fall erst recht, weil die Betroffene eine so sympathische junge Frau ist.
Und dann die zwei kleinen Kinder. Was für ein Drama.
Eine Woche darauf musste ich wegen eines Einschreibens ihre Unterschrift bekommen. Der Brief war von einem hiesigen Anwaltsbüro, adressiert an Frau Beate Mehlmann.
Der Ehemann hatte also wirklich nicht lange gezögert.
Ich liebe meinen Beruf, wenn ich gute Nachrichten bringen kann. Aber in diesem Fall …
Frau Mehlmann tat mir schrecklich leid. Warum musste ich der Überbringer schlechter Nachrichten sein? Ich hätte den Brief gerne unterschlagen, aber das wäre ja auch keine Lösung gewesen. Außerdem bin ich ein gewissenhafter Beamter.
Ich wappnete mich für eine möglicherweise tränenreiche Begegnung und drückte auf den Klingelknopf an ihrem Haus.
Es dauerte ein Weilchen, dann öffnete sich langsam die Tür und die beiden Knirpse sahen mich fragend an. Ich versuchte einen möglichst munteren Tonfall. Die beiden würden es bald schwer genug haben.
„Na ihr zwei Süßen, wo ist denn eure Mama?
Der ältere der Jungen antwortet mit ernstem Gesicht: „Mama hängt im Baum und kommt nicht herunter.“
Ich fühlte, wie mir die Knie weich wurden. Nein, das durfte nicht sein. Sie hatte sich etwas angetan? Konnte sie so verzweifelt sein und ihre Kinder alleinlassen?
Es grauste mir vor dem Bild, welches sich vor mein inneres Auge drängte. Am liebsten wäre ich weggelaufen, aber wie hätte ich die beiden Kleinen in der Situation alleinlassen können. Ich beugte mich hinunter zu ihnen und fragte voller Mitgefühl: „Im Baum, sagst du? Wo denn?“
Der Kleine wurde nun eifrig. „Hinten im Garten, ich kann es dir zeigen.“
Das musste ich unbedingt verhindern. „Nein, spielt ihr nur weiter. Ich werde sie schon finden.“
Ich ging mit ihnen ins Haus und vergewisserte mich, dass die Brüder sich wieder in ihr Spiel mit Lego-Steinen vertieften. Der Weg in den Garten führte durch die offenstehende Terrassentür. Ich konnte mich nicht länger vor der Realität drücken.
Von der Terrasse war der Garten gut zu überblicken. Es gab auch nur einen Baum, der für die Szene, die ich befürchtete, geeignet war. Die umgestürzte Stehleiter sah ich sofort, aber keinen baumelnden Frauenkörper. Dafür lag da ein Korb mit verstreut herumliegenden Äpfeln.
Die Erleichterung – es konnte sich ja nur um einen Ernteunfall handeln – ließ mich schnell zu dem Baum laufen. Schon während des kurzen Sprints rief ich nach ihr: „Frau Mehlmann?“
Sie antwortete sofort: „Ich bin hier, im Apfelbaum.“
Und das saß sie, auf einen der unteren Äste, an den Stamm gelehnt, den sie mit einem Arm umschlungen hielt.
„Gott sei Dank, ist Ihnen auch nichts passiert?“
„Ach wo. Ich trau mich nur nicht hinunter. Wieso hat Phillip denn Sie alarmiert? Ich hatte ihn doch zu den Nachbarn geschickt.
Wie kann man sich nur einen hochstämmigen Apfelbaum in den Garten setzen. Der Vorbesitzer hat bestimmt nicht ans Ernten gedacht.“
Während ich die Leiter aufrichtete und ihr herunterhalf, konnte ich in meiner Erleichterung nicht an mich halten und erzählte ihr von meinen Befürchtungen, dem Einschreiben des Anwalts und von der Szene, die ich vor einer Woche miterlebt hatte.
Ich weiß ja, dass ich zu viel rede. Oft, vor allem wenn ich emotional betroffen bin, rutschen mir Dinge heraus, die ich besser für mich behalten sollte. Leider kommt mir diese Einsicht immer etwas zu spät.
So oft schon habe ich mir symbolisch in den Hintern getreten, weil mein Plappermaul einfach loslegt, bevor die Sinnkontrolle einsetzt. Auch diesmal sage ich mir betreten, dass der jungen Frau mein amouröser Verdacht doch peinlich sein müsse. Leider wieder einmal zu spät.
Ich rechnete schon damit, dass sich unser bisher herzliches Verhältnis, wie nach einer eiskalten Dusche, abkühlen würde. Umso mehr war ich überrascht von ihrer Reaktion. Sie brach in ein glockenhelles Lachen aus, bevor sie die Lage erklären konnte.
„Du lieber Himmel, Herr Ranzer, ich fühle mich ja regelrecht geschmeichelt von der abenteuerlichen Meinung, die sie von mir haben.
Also, die Sache ist ganz unromantisch. Ich bin in unserer Familie für alles zuständig, was unser Haus betrifft.
Mit dem Abfluss in der Küchenspüle stand ich von Anfang an auf Kriegsfuß. Alle meine Hausmittelchen haben die teilweise Verstopfung nicht in den Griff bekommen. Schließlich habe ich einen Installateur beauftragt.
Dieser Herr Schätzlein scheint mir ein rechter Schwerenöter zu sein. Er hat mich heftig angeflirtet. Um seinen Eifer zu dämpfen, habe ich mich mit einer Ausrede zurückgezogen und meinen Mann in die Küche geschickt, der rein zufällig gerade zu Hause war, um eine Erkältung auszukurieren.
Mein Mann war wie vom Donner gerührt, als er einen weitgehend entblößten Schätzlein vorfand. Der musste meinen Rückzug gründlich missverstanden haben. Wir haben uns über seinen hastigen Aufbruch köstlich amüsiert. Sein Werkzeugkasten steht übrigens immer noch bei uns.“
Die Erleichterung darüber, wie locker sie mit meinen unpassenden Vermutungen umging, hätte mich beinahe auf die Knie sinken lassen. Sie ist eben eine tolle Frau.
„Aber wie passt nun das Schreiben von dem Anwaltsbüro in die Geschichte? Dafür brauche ich übrigens noch Ihre Unterschrift.“
Sie nahm mir den Brief aus der Hand und öffnete das Kuvert. „Das werden wir gleich haben und dann bekommen Sie auch meine Unterschrift.“
Ich konnte sehen, wie der Ausdruck ihres Gesichtes von Unglauben über Verblüffung bis hin zu Erheiterung wechselt. Schließlich erklärt sie lachend: „Wenn ich den verschwurbelten Brief richtig verstehe, dann haben wir einen kostenlosen Service für alle Installationsarbeiten im Haus solange wir hier wohnen. Dafür müssen wir nur das Missverständnis des Herrn Schätzlein vergessen. Also, ich denke, den Handel werde ich eingehen. Allein schon deshalb, um dem leidenschaftlichen Rohrverleger einen Denkzettel zu verpassen.“