Von Ingo Pietsch

Es war der 24.Dezember 11.30 Uhr. Klaus hatte noch genau zwei Briefe zuzustellen. Dann hatte er Feierabend.

Er stieg aus dem Schlitten, den er direkt vor dem Eingang des Mehrfamilienhauses geparkt hatte und täschelte sanft die Flanke seines Rentieres.

„Bin gleich wieder da!“, sagte er und wollte sich der Tür zuwenden, als ein großes Auto neben ihm hupte und die Seitenscheibe herunterfuhr.

Ein schmieriger Typ blökte Klaus an: „He, Sie da im Weihnachtsmannkostüm, Sie müssen ihren Schlitten woanders parken. Der nimmt gleich zwei Parkplätze weg!“

„Ich stelle die Weihnachtspost zu und bin gleich fertig. So lange müssen Sie sich in Geduld üben.“, antwortete Klaus freundlich.

Der Typ ließ sich nicht beirren: „Muss ihr Schlitten denn nicht eigentlich gelb sein? Ha, Ha, ha“, er lachte auf eine widerliche Art und räusperte sich dann: „Ich muss auch noch meine Post verteilen. Mieterhöhungen. Das hier ist mein Haus. Und wenn ich die Dinger nicht persönlich überreicht habe, muss ich wieder eine halbe Ewigkeit warten. Ist doch das perfekte Weihnachtsgeschenk!“

Klaus zog eine Art Fernbedienung mit blinkenden Lichtern und einer Antenne, die eine rot-weiß gestreifte Zuckerstange hätte sein können, aus seinem Mantel und richtete sie auf das Auto. 

Die Seitenscheibe fuhr hoch.

„He, was soll das? Ich kann mich nicht mehr bewegen! He, können Sie mich hören? Halloooo?“, der Mann war außer sich, doch Klaus ignorierte ihn einfach und stiefelte zum Eingang hoch.

Dort drückte er einen Klingelknopf im Erdgeschoss und wartete, bis eine ältere Dame die Gegensprechanlage betätigte.

„Ja?“, ertönte eine rauhe Stimme aus dem Lautsprecher.

„Guten Tag, ich bringe ihnen die Weihnachtspost.“

„Moment“, es knackte in der Anlage und dann ertönte der Türsummer.

Klaus drückte die Tür auf trat in den Flur. Hier waren schon länger keine Renorvierungsarbeiten durchgeführt worden. Der Putz bröckelte an den Wänden zum Keller ab und die Lichtschalter waren zum Teil zerbrochen.

Eine Wohnungstür öffnete sich und eine ältere Dame mit Rollator erschien. Sie trug eine geblümte Schürze und ein herrlicher Duft nach Braten strömte in das Treppenhaus.

„Arbeitet jetzt auch noch der Weihnachtsmann für die Post? Oder sind Se noch vom Karneval übriggeblieben?“, die Frau hustete und setzte sich auf den Steg des Rollators.

„Soll ich ihnen helfen?“, fragte Klaus freundlich.

„Finger weg, junger Mann. Auch wenn Se einen weißen Bart haben, könnte ick trotzdem ihre Mutter sein!“ Sie hustete wieder.

Klaus zog die Augenbrauen hoch, was man aber wegen der rot-weißen Zipfelmütze kaum sehen konnte. Er blickte auf einen von zwei Briefen, die er in der Hand hielt. „Sind Sie Frau Winkel?“

„Wenn Se dit lesen können, können Se auch das Klingelschild lesen. Ja, dit bin ick“, ergänzte sie.

„Dann habe ich hier diesen Brief von Ernst Winkel“, Klaus überreichte den weißen Umschlag, auf dem mit verschnörkelten Buchstaben die Adresse stand.

Frau Winkel schien verblüfft. „Dit kann nicht sein. Der alte Sack ist vor einem Vierteljahr gestorben. Wissen Se, der war öfter untreu und hat ne Menge Mist gebaut. Hab ihn aber trotzdem geliebt. Gehörte sich halt so.“

„Aha.“

„Hab ihm an seinem Grab noch zugerufen: Jetzt kannste mich nicht mehr ärgern!“ Ihr Blick schweifte in die Ferne. Sie hustete wieder.

„Wollen Sie ihn nicht öffnen?“ Klaus war gespannt, was darin stand.

„Dit geht Se gar nichts an!“, sie riss den Brief einfach an der Seite auf und versuchte die Schrift zu entziffern.

„Können Se vielleicht? Ohne meine Brille sehe ick kaum noch was.“

„Ja, gerne“, Klaus begann zu lesen. „Liebste Roswitha, du kannst dir sicher nicht vorstellen, wie sehr du mir fehlen wirst.“

„Überspringen Se den schnulzigen Teil und lesen Se dit vor, wo er mir noch ne Million hinterlassen hat.“

„Auch wenn ich vieles in meinem Leben, in unserem Leben, falsch gemacht habe, möchte ich doch, dass du weißt, wie sehr ich dich geliebt habe und ich dankbar bin, dass du es so lange an meiner Seite ausgehalten hast.“

„Dit klingt gar nicht nach meinem Ernst.“

„Diesen Brief habe ich schon Anfang des Jahres losgeschickt und verfügt, dass er erst Heilig Abend zugestellt werden soll. Ich wusste, dass ich das Jahresende nicht mehr erleben werde. Du weisst ja, dass miteinander Reden nicht meine Stärke war.“

„Dit er stirbt hat er mir auch noch verheimlicht.“

„Und ich wollte dich hiermit wissen lassen, dass ich dich vermissen werde. Dein Ernst.“

Frau Winkel standen die Tränen in den Augen. Der Brief berührte sie sehr, damit hatte sie nicht gerechnet.

„Ich muss dann wieder“, sagte sie mit erstickter Stimme.

„Frohe Weihnachten!“, sagte Klaus und lächelte.

Frau Winkel hatte sich wieder umgedreht und war halb in ihrer Wohnung verschwunden. Sie schaute noch einmal zurück und überlegte. „Ja, dit wünsche ick ihnen auch“, meinte sie ehrlich. Sie hustete noch einmal und schloss die Tür.

 

Klaus ging in die dritte Etage. Dort standen etliche Schuhe, große und kleine und ein Buggy.

Er klingelte. Ein ca. zweijähriges Mädchen öffnete sah Klaus mit großen Augen an.

Er schaute herunter und fragte: „Wo ist denn deine Mutter?“

„Puff!“, sagte sie wie selbstverständlich.

Rauch kam vom Flur ins Treppenhaus und etwas brutzelte in der Wohnung.

Da erschien eine hübsche junge Frau mit einem kleinen Jungen auf dem Arm. Ihre schulterlangen Haare verhüllten ihr halbes Gesicht, aber Klaus konnte ganz klar den Bluterguss auf ihrer Wange erkennen.

„Ja, bitte“, sagte sie erschöpft.

Klaus schnupperte: „Sind das Kartoffelpuffer?“

„Ja, richtig“, sie schaute Klaus in die Augen, als könne sie seine Gedanken lesen. „Ich weiß, es ist Weihnachten, aber …“. Sie hielt inne.

„Das riecht doch sehr lecker! Ich habe hier einen Brief für Sie.“ Klaus gab ihn ihr.

Die junge Frau setzte den Jungen auf den Boden. Dabei warf sie ein paar leere Bierflaschen um, dass es klirrte.

„Ich habe vergessen, die wegzuräumen. Mein Mann schläft. Er ist von der Spätschicht wiedergekommen und muss sich ausruhen. Sind Sie von der Post? Sie sehen aus wie der Weihnachtsmann!“

„Weihnachtspost.“

Die beiden Kleinen starrten Klaus an.

Er zwinkerte ihnen zu und sie lächelten zurück. Das Mädchen versuchte auch zu zwinkern, aber sie musste dabei ein Augenlied festhalten, da immer beide zugingen.

„Der Brief ist von meiner Schwester!“ Die Frau hielt sich die Hand vor den Mund. „Woher weiß sie, wo ich wohne?“ Sie öffnete den Brief.

Klaus zuckte mit den Schultern.

Mit zitternden Fingern umklammerte sie den Umschlag und begann hastig zu lesen. Nervös strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und Klaus konnte sehen, dass ihre Lippe aufgeplatzt war und sie ein Veilchen hatte.

„Der ist von meiner Schwester!“, sagte sie immer wieder, freute sich und begann wie Frau Winkel zu weinen.

„Ist das ein schlimmer Brief?“, fragte das Mädchen.

„Nein, nein, deine Tante wohnt hier ganz in der Nähe. Hier ist auch eine Telefonnumer. Sie schreibt, wenn es uns nicht gut gehen sollte, kann sie jederzeit vorbeikommen und uns helfen.“ Die junge Frau konnte kaum noch reden.

Sie umarmte den völlig verdatterten Klaus. Er täschelte ihren Rücken und zog noch zwei kleine Geschenke für die Kinder aus seinen Taschen.

„Vielen Dank lieber Weihnachtsmann. Ich muss jetzt ganz dringend telefonieren.“

Klaus nickte stumm.

Die Mutter schnappte ihre Kinder und schlug die Tür zu.

Klaus lauschte noch am Türglas.

„Hallo Bella, ich bins. Ich habe deinen Brief bekommen. Ich brauche wirklich dringend Hilfe. –  Was, du hast mir keinen Brief geschickt?  – Kannst du mir trotzdem helfen?  – Ja, wirklich? – Bis gleich!“

Die junge Mutter öffnete noch einmal die Wohnungstür, aber der Weihnachtsmann war verschwunden … 

 

Klaus hatte es sich wieder in seinem Schlitten bequem gemacht und hielt die Zügel in den Händen.

Im Hintergrund läuteten Glocken Zwölf Uhr.

„Oh, beinahe hätte ich was vergessen.“ Klaus zückte wieder seine Fernbedienung und richtete sie auf den Wagen, der immer noch in zweiter Spur stand.

Die Seitenscheibe fuhr wieder herunter: „Ich werde Sie so was von verklagen! Darauf können Sie sich verlassen, Sie falscher Weihnachtsmann!“, schrie der Hausbesitzer, hielt die Papiere aus dem Autofenster und wedelte wütend damit.

„Fröhliche Weihnachten!“, wünschte Klaus und tippte an seine Mütze.

Der Schlitten hob unter den Blicken von Frau Winkel, der Mutter aus dem dritten Stock mit ihren Kindern und dem verärgerten Mann in die Lüfte und hinterließ nur einen Sternenregen, der auf die Mieterhöhungen hinabfiel und sie einfach auflöste …

 

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