Von Christa Blenk

Hoch erhobenen Hauptes verlässt sie den Gerichtssaal. Das Urteil hat sie nicht überrascht. Niemand entgeht einer Verurteilung. Der enge Gang ist dunkel und feucht und mündet in eine Art Warteraum. Dort sitzen schon andere Verurteilte. Unbeteiligt tritt sie ein, hebt kurz die Augen und setzt sich anschließend auf eine schmierige, rissige Holzbank im hinteren Teil, direkt unter einem stumpfen, vergitterten Fenster. Eine Tellerscheibe ist zerbrochen und lässt kalte Luft herein. Der Schmutz stört sie nicht mehr. Ihr schönes Kleid hatten sie ihr als erstes genommen und ihr fleckige, stinkende Lumpen hingeworfen. Es ist einfacher, schmutzige, ungepflegte Menschen zu entwürdigen, sie zu quälen, das wissen die auch. Sie schaut die anderen Todeskandidaten nicht an. Es ist nicht mehr wichtig, wer hier sonst noch sitzt. Sie will keine Verbrüderung im Tod, keine flehenden Gesichter. Sie denkt an ihre kleine Tochter, die sie nie wieder sehen würde. Traurigkeit legt sich über sie. Aus dem rechten Augenwinkel nimmt sie eine schwarze Soutane wahr. Den Priester haben sie also auch verurteilt. Bei der kurzen Verhandlung, die einer Farce glich, wurde das nicht erwähnt, obwohl sie ein paar Namen aufgezählt haben. Sie ist immer teilnahmslos geblieben. Um Wahrheitsfindung ging es sowieso nicht. Wahrheit ist dehnbar. Jetzt ist es vorbei. Sie hat nichts gesagt, niemanden verraten. Kein einziger Ton kam über ihre Lippen. Sie hat sich nicht einmal verteidigt. Sie wusste vorher schon, dass das auch nichts genutzt hätte. Man hätte sie auf jeden Fall verurteilt. Alle, die erwischt wurden, landeten immer am Galgen. Jede Gerichtsverhandlung war eine Posse und dementsprechend viel wurde gelacht im Saal. Sie kannten nur den Ausweg der Verurteilung. Ein Freispruch hätte alles durcheinander gebracht, war einfach nicht vorgesehen im System. Sie hatte niemanden denunziert, nur darauf kam es an. Sie würde den Priester nicht ansehen, obwohl sie seinen flehenden Blick spüren konnte. Sie würde ihnen den Gefallen nicht tun und ihnen recht geben. Ändern würde es sowieso nichts mehr.

***

Unruhe breitet sich aus. Sie hört, dass direkt vor dem Fenster lautstark und knarrend ein Karren zum stehen kommt. Kurz darauf betreten mehrere Personen den lieblosen, letzten Warteraum. Jemand geht sehr nahe an ihr vorbei, drückt ihr ein Stück Papier in die Hand und geht schnell wieder weg. Die Wächter treiben die ersten sieben Verurteilten aus dem Raum. Namenlos werden sie weggebracht. Zum Glück sitzt sie weiter hinten, weg von der Tür und würde auf dem ersten Transport keinen Platz mehr haben. So hat sie eventuell noch Gelegenheit, den Zettel zu entfalten, ihn zu lesen. Sie muss ihn gut verstecken. Sie hofft, dass der Verfasser ihn nicht unterzeichnet hat. Dann wäre ihr beharrliches Schweigen umsonst gewesen. Ihre Augen flattern kurz durch den Raum und bleiben am mittlerweile stehenden Priester hängen, der wieder in ihre Richtung schaut. Sie lässt ihren Blick schnell nach unten gleiten. Niemand hat etwas gesehen. Sie zittert, Schweiß bricht auf ihrer Stirn aus. Sie hat Angst, zum ersten Mal hat sie Angst, Angst um ihre Lieben und kann es nun kaum erwarten, die Botschaft zu lesen. Der Priester ist an der Tür angekommen und dreht sich ein letztes Mal um, erwischt ihren Blick und hält ihn fest. Sie macht eine kaum wahrnehmbare, verneinende Bewegung mit den Augen, worauf sich auf seinem Gesicht Erleichterung ausbreitet. Dann ist er aus ihrem Blickfeld verschwunden. Außer ihr befinden sich noch zwei weitere Frauen und vier Männer im Raum. Die Frauen beten, die Männer blicken nach unten. Einer, fast noch ein Kind, weint. Alle wissen, der nächste Transport würde sie auf ihren letzten Weg schicken.

Sie faltet schnell den Zettel auseinander.

„Wir werden Ihnen das letzte Geleit geben. Ich werde Ihr kleines Mädchen im Arm halten. Wir werden nicht winken.“

Sie fröstelt und ist glücklich, steckt das Stück Papier in den Mund und schluckt es hinunter. Sie muss husten, ihr Rachen ist so trocken. Sie haben ihr schon lange nichts mehr zu trinken gegeben. Jemand steht auf und reicht ihr einen Holzbecher mit Wasser. Sie nimmt ihn emotionslos entgegen und trinkt. Das Wasser schmeckt faulig, aber der Husten hört auf.

Kurze Zeit später kommt ein Mann auf sie zu, zieht ein Messer aus der Tasche, schneidet grob und lieblos ihre Haare ab und lässt sie in einen Bottich fallen. Sie hat schöne Haare, dunkelblond, lockig. Er würde viel Geld für ihre Haare bekommen, denkt sie wehmütig. Es liegen schon andere Haarbüschel in diesem Kübel. Dunkle, glatt-seidige und darunter schimmert es rot durch. Die waren sicher auch mal schön gewesen, denkt sie mit Melancholie und spürt die Kälte im Nacken, dort wo bis vor kurzem dicke Haare ihren Hals wärmten. Es ist frostig im Raum. Aber sie ist glücklich, den Zettel los geworden zu sein. Sie freut sich darauf, ihr Kind noch einmal zu sehen. Das süße, kleine Mädchen. Nur fünf Jahre durfte sie eine Mutter haben.

Schlagartig wird ihre Freude von einer Wolke eingenebelt. Vielleicht war der Zettel ja eine Falle, um sie dazu zu bringen, mit ihren Augen ihre Liebsten zu identifizieren. Schlimmer noch, nicht auszudenken, wenn das Kind nach ihrer Mutter rufen würde, oder winken. Sie würden sofort wissen, wer gemeint war. Dann wäre all ihr Schweigen umsonst gewesen. Jetzt ist sie froh darüber, dass man ihre Haare abgeschnitten hat und sie die schmutzigen Fetzen tragen muss. Ihre Tochter würde sie so nicht erkennen und sie wird nicht zu ihr hinüberschauen. Nicht einen einzigen Blick wird sie wagen. Sie durfte das nicht.

Es hat sich herumgesprochen, dass unter den Verurteilten auf dem Weg zum Schafott immer Spione mitfahren, die nur darauf warten, dass sich die Gefangenen auf ihrem letzten Gang mit den Augen von ihren Liebsten verabschiedeten. Sie würden sofort das Fenster oder die Tür ausfindet machen. In Minutenschnelle hätten sie die Rufenden oder Winkenden ausfindig gemacht, sie mitgenommen. Einfacher konnte es für die Polizei gar nicht sein. Die Beamten mussten nur den Augen der Verurteilten folgen, um deren Angehörige zu identifizieren. Alles wäre umsonst gewesen. Nein, sie durfte auf keinen Fall aufblicken. Sie würde ihre Augen auf dem langen Weg zum Galgen nach unten richten auch wenn es ihr Herz zerreißen und sich das Kind grämen würde.

Sie lehnt sich zurück. Die Wand ist kalt. Ihr ist kalt. Ohne Haare fühlt sie sich nackt. Ihr Kopf ist leer, sie will nicht mehr denken.

***

Nach langer Zeit hört sie das Rattern der Eisenräder erneut. Kurz darauf entsteht wieder diese Unheil ankündigende, heimtückische Hektik. Jemand zieht sie hoch und schubst sie brutal zur Tür. Sie blickt kalt auf den Wächter, verachtet ihn mit ihrem Blick und verlässt würdevoll den Raum. Ihre Knie zittern, als sie auf den Karren klettert, der sich kurz darauf in Bewegung setzt. Links und rechts neben dem Wagen gehen Polizisten und Wachen. Ihr Schwanengesang ist das ungeduldige Grölen der Zuschauer. Direkt neben ihr steht ein Mann und blickt sie mitfühlend an. Sie weiß, er wartet nur darauf, dass sie ihren Kopf hoch zu den Fenstern hebt und ihre Augen sprechen lässt. Er ist der Spitzel. Sie begreift es und schließt sofort die Augen.

Auf dem langen Weg zum Schafott bleibt ihr Blick streng nach unten gerichtet. Dabei würde sie ihre Augen so gerne hinauf schicken zu einem der Fenster, wo vermutlich ihr Kind darauf wartet, die Mutter ein letztes Mal zu sehen. Sie hätte nicht gedacht, dass es so schwierig werden würde. Aber sie würde diese letzte Schlacht gewinnen. Der Gedanke macht sie beinahe übermütig. Immer wieder ist sie versucht, ihre Augen nur eine Sekunde lang nach oben zu entlassen. Aber was, wenn sie genau dann den Blick ihrer Tochter trifft und diese sie doch erkennt. Nein, es ist unmöglich. Es ist der schwerste Gang ihres Lebens. Sie hat keine Angst mehr, hingerichtet zu werden, sie hat nur noch Angst, ihrem Impuls nachzugeben. Aber sie darf jetzt auf den letzten Metern nicht zur Verräterin werden. Von ihr würden sie nichts erfahren, gar nichts.

***

Abrupt hält das Gefährt. Sie wird nach vorne geschleudert und blickt angestrengt auf ihre nackten, zierlichen Füße. Bevor sie vom Karren gestoßen wird, spürt sie ein letztes Mal die Augen des Mannes und freut sich, nicht auf ihn hereingefallen zu sein. Sie ist stark geblieben bis zur allerletzten Sekunde. Sie hat gewonnen und er hat verloren.

Sie lacht ihre schmutzigen Füße an, vor Glück.

 

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