Von Christiane Labusga

Der Wind pfeift durch die Ziegel und wirbelt Staub auf, der in vereinzelten Sonnenstrahlen leuchtet und kleine, fahle Regenbogen auf den Dachboden zaubert. Es riecht wunderbar nach altem Haus und Sommer und Kindheit, und Alfred ist glücklich, dass er und Evi sich im letzten Frühling entschieden haben, in das ererbte Haus zu ziehen. Seither bewohnen sie das Erdgeschoss und gehen mit unendlicher Gemächlichkeit, die er sich seit seiner Pensionierung leistet, daran, die mitgeerbten Habseligkeiten seiner Tante zu sichten und einer angemessenen Verwertung zuzuführen.

Auch Evi genießt diese Gemächlichkeit. Seit sie in Altersteilzeit ist, ist ihr nichts mehr dringlich, alles fließt ruhig und freudvoll dahin. Sie nimmt sich die Zeit, die sie braucht, und kann endlich auch mal spontan sein. So verbringt sie dieses Wochenende bei Verwandten in den Alpen. Morgen wird sie zurückkehren, um dann noch eine Woche Urlaub mit ihm in ihrem neuen alten Haus abzufeiern. Er könnte ihr hier oben zur Begrüßung Champagner servieren, vielleicht, wenn er Glück hat, wird das seit Tagen immer wieder angekündigte Gewitter genau dann stattfinden, und sie säßen im Getrommel des Regens und dem Geruch, den die Regentropfen vom heißen Ton der Ziegel aufsteigen ließen. Ja, das wäre großartig, romantisch, das wäre ein Willkommen, das ihr auch gefallen würde.

Platz muss er aber noch schaffen dafür. Da steht eine Rollgarderobe mitten im Blickfeld, überladen mit verstaubten alten Lumpen, verdreckt und zerschlissen. Die wird er heute noch wegräumen. Er zieht die Garderobe ein Stück Richtung Dachluke, da fällt ihm ein halbhohes Türchen auf, das dahinter versteckt war.

Das Türchen besteht aus einem stabilen Brett, das mit einem Holzstück verriegelt wird, das über der Tür in den Rahmen geschraubt ist. Um sie zu öffnen, muss man das Holzstück in die Waagerechte drehen. Alfred hat mit dieser Art Riegel schon ganze Wälder an Baumhäusern versehen, als er die Sommer noch mit seiner Jungsbande verbrachte. Er streichelt über das Holzstück. All diese schönen Erinnerungen, die das Haus wachruft.

Aber nun will er doch wissen, was hinter der Tür ist. Er schiebt das Holzstück in die Waagerechte, öffnet das Türchen und geht mühsam gebückt hindurch. Auch hier Staubwolken, die vom Wind aufgewirbelt werden, der jetzt in Böen auffrischt und pfeifend unter die Ziegel fährt.

Vereinzelt stehen Kartons mit alten Büchern, die Alfred sofort neugierig machen. Das wird sicher auch Evi gefallen. Als er sich neben einen der Kartons auf den Boden setzt und eine alte Ausgabe des Dschungelbuchs in die Hand nimmt, ist von ferne ein Grollen zu hören. Das Türchen knarrt.

Huck Finn zieht er aus der Kiste, als eine kräftige Böe die Dachziegel zum Klirren bringt und das Türchen mit lautem Rumms zuschlägt. Die Erschütterung lässt den Riegel in die Senkrechte fallen. Alfred krabbelt zur Tür: Ja, sie ist wirklich verschlossen. Aber das macht ja nichts, ein kleines Abenteuer mehr für ihn in diesem Haus voller Erinnerungen und Wunder. Bis morgen würde er aushalten, gegen drei wollte Evi zurück sein. Sie wird ihn schon finden, er hat die Dachluke ja offen gelassen.

Langsam wird es kühler, Gewitterwolken haben sich über dem Haus gesammelt. Biene Maja startet gerade in den Tag, als ein Blitz gleißend den Dachboden erhellt und ein gewaltiger Donnerschlag Alfred jetzt doch ein wenig besorgt werden lässt. Sind überhaupt Blitzableiter auf dem Dach?

Als er die Biene zurück legt und die Buddenbrocks aus der Kiste zieht, setzt der Hagel ein. Das ohrenbetäubende Prasseln verhindert, dass er das Klingeln des Telefons hört. Er hört auch nicht, dass Evi auf den Anrufbeantworter spricht, extra laut, damit er sie überall im Haus hören kann und vielleicht doch noch ans Telefon kommt: „Alfi, wo bist du denn? Hör mal: Ich hab‘ heute die Inge getroffen, die von früher hier. Und weißt du was, die geht morgen in die Berge, eine Woche, ohne Handy, ganz einsam, nur die eigenen Gedanken. Und das Beste: Ich soll einfach mitkommen! Ach, Alfi, ich freu mich so! Bussi, mein Schatz, sei nicht traurig, ich bin ja in einer Woche wieder da!“

 

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