Von Eva Fischer

Der Absturz seines Vaters kam unerwartet, auch wenn kein Mensch darauf vertrauen kann, dass er auf Dauer ungeschoren davonkommt, wenn er täglich auf hohen Gerüsten balanciert, um sein täglich Brot zu verdienen. Ein Schritt in die falsche Richtung und schon war es passiert. Da hatte er wohl Pech gehabt.

Man brachte ihn ins Krankenhaus. Er wollte seinen siebenjährigen Sohn noch einmal sehen, bevor er seinen inneren und äußeren Verletzungen erliegen sollte.

„Hannes, mein lieber Junge. Du siehst, dein Vater muss einen frühen Tod sterben. Warum? Weil es nur für einen elendigen, schlecht bezahlten Job auf dem Bau gereicht hat. Du bist ein intelligenter Junge und so gebe ich dir einen guten Rat: Lerne fleißig! Lass dich nicht von den Versuchungen deiner Zeit ablenken! Eines Tages wirst du einen Beruf haben, mit dem du viel Geld verdienen kannst. Dann kannst du dir alles leisten. Du wirst in einem warmen Büro arbeiten. Du wirst dir ein schönes Haus kaufen und eine Familie ernähren können, ja du wirst mächtig sein, denn nur reiche Leute werden in unserer Gesellschaft respektiert. Vergiss es nie, Hannes! Geld macht glücklich! Die Armen haben nie Anteil an diesem Glück.“

Die letzten Worte seines Vaters hatten sich bei Hannes eingebrannt wie ein Tattoo. Er lernte fleißig in der Schule, bekam ein Stipendium für die Uni und erfüllte sich seinen Traum. Er arbeitete sich in der Baufirma hoch, die einst seinen Vater beschäftigte, und wurde Chef. Das Geschäft brummte. Es war gerade die Niedrigzinsphase. So manche Familie investierte in ein neues Eigenheim und auch die Mehrfamilienhäuser in den überfüllten Großstädten waren gefragt.

Hannes war mittlerweile ein wohlhabender Junggeselle. Bisher hatte er nur für sein Unternehmen gearbeitet, sich keinerlei Vergnügungen gegönnt. Er ging schon auf die vierzig zu. Was nützt mir mein Imperium, dachte er, wenn ich es nicht weitervererben kann. Die Frau, die er suchte, sollte gut aussehen und dreizehn Jahre jünger sein. Er erwartete, dass sie als Geschäftsfrau Events organisieren konnte und die Firma glamourös repräsentierte. Im Bett wünschte er sich natürlich auch bestimmte Fertigkeiten. Schließlich wollte er mindestens einen Sohn und eine Tochter. Hannes selbst war viel zu sehr mit der Arbeit in seiner Firma beschäftigt und überließ die Suche einem Angestellten seines Vertrauens, der auch Computerfachmann war, und das Gewünschte zeitnah unter dem Weihnachtsbaum präsentieren konnte. Hannes fand Gefallen an der hübschen, jungen Frau namens Liane. Das erste Mal in seinem Leben fuhr er in Urlaub und zwar nach St. Moritz in die Schweiz. Er genoss die romantisch verschneite Landschaft, durch die er auf Langlaufskiern mit seiner Liebsten glitt, das luxuriöse Hotel, den prickelnden Champagner und nicht zu vergessen die prickelnden Nächte. Neun Monate später wurde sein Töchterchen Isabella geboren, ein ganz herzallerliebstes Lockenköpfchen. Allein wegen seiner Arbeit bekam Hannes sie nur selten zu Gesicht, was ihn immer mehr grämte. Sogar für seine Frau fand er nicht die von ihm gewünschte Zeit. Das muss sich ändern, dachte er und so machte er seinen Stellvertreter zum Chef und widmete sich ganz seiner jungen Familie.

Im Sommer ging es nach Sylt, wo Hannes seiner Tochter beim Buddeln im Sand half. Im Herbst fuhr man zum Ponyhof, wo er seine kleine Prinzessin stolz auf dem Rücken des Pferdes durch die Manege führte. Nach zwei Jahren kam auch der gewünschte Stammhalter. Man nannte ihn Alexander, denn er sollte so groß werden wie sein Namensvetter.

Während Hannes das Familienleben mochte, langweilte sich Liane immer mehr. Sie fühlte sich nicht genug gefordert bei der Organisation von Kindergeburtstagen. Sie bat Hannes, in der Firma arbeiten zu dürfen. Sie wolle sich ihr schickes Kostüm nicht länger von ausgespucktem Kinderbrei ruinieren lassen und endlich Entscheidungen von größerer Tragweite treffen. Hannes willigte ein und fand, dass Liane ihre Sache gut machte. Weniger gefiel ihm, dass Liane ein Techtelmechtel mit dem Architekten anfing und dass seine pubertierende Tochter ihn als Loser bezeichnete. 

Es ist an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, sagte er sich. In sein Unternehmen wollte er nicht wieder zurück, ganz abgesehen davon, dass die goldenen Zeiten der Baubranche vorbei waren. Die Zinsen stiegen und wegen der Inflation konnten sich die Leute kaum noch ein Eigenheim leisten.

So beschloss Hannes, die Welt zu erkunden. „Ich bin dann mal weg“, schrieb er seiner Frau in einer WhatsApp. Zu Fuß pilgerte er nach Santiago de Compostela. Was bin ich doch für ein Glückspilz, dass ich durch Gottes schöne Welt wandern darf, dachte er und sie ist wahrhaft sehr groß. Er wandte sich Südamerika zu, besuchte die Inka-Ruine Machu Picchu in Peru, durchstreifte die Galàpagos-Inseln in Ecuador, wanderte durch die Atacama-Wüste in Chile und bewunderte die Cristo- Redentor- Statue in Brasilien. Leider beendeten rivalisierende Banden abrupt seine Erkundungstour. Er wurde in eine wenig komfortable Behausung gebracht. Hannes sollte entweder durch hohes Lösegeld freikommen oder man wollte ihn einen Kopf kürzer machen. Liane beteuerte, dass die Firma nicht mehr so viel Geld abwarf. Sie könne bedauerlicherweise auf keinen Fall das Lösegeld zahlen. Außerdem würde sie der Drogenmafia keinen Cent schicken. Schließlich hätte diese ihren Sohn Alexander auf dem Gewissen. Da hätten die Gauner bereits genug abkassiert. 

Aber Hannes hatte Glück. Die Polizei bekam Wind von der Entführung und befreite ihn und sieben weitere Geiseln. Leider wurde auf beiden Seiten viel geschossen und Hannes bekam einen Streifschuss ins Knie ab. Wer genau dafür verantwortlich war, ließ sich nicht ermitteln. Es interessierte auch keinen. Dafür brachte man ihn mit dem Flugzeug zurück in sein Heimatland. 

Der Schuss ins Knie kam zur rechten Zeit, dachte Hannes. Ich hätte eh nicht mehr wandern wollen. Meine Erfahrungen möchte ich jedoch nicht missen. Im Krankenhaus gelang es den Ärzten nicht, ihn wieder zusammenzuflicken, so dass Hannes im Rollstuhl landete. Er zog in eine kleine Parterrewohnung, die seiner Baufirma gehörte. Liane bewohnte noch die alte Villa und hatte mittlerweile einen neuen Liebhaber. Aber Hannes neidete ihr weder das eine noch das andere. Er fühlte sich wohl in seinem Einzimmerappartement. Morgens lauschte er dem Gesang der Vögel im Garten und dachte über das Glück in seinem Leben nach. Nachmittags entdeckte er die Schönheit der Weltliteratur, die er sich samt Bücherregal kommen ließ.

 Wozu benötige ich mehr Platz, fragte er sich.  

Wozu brauche ich Luxus oder Menschen?

Ich war reich, habe viel von der Welt gesehen, hatte eine Familie und lernte viele Menschen auf meinen Wegen kennen.

Jetzt kann ich mich glücklich schätzen, dass ich ungestört lesen kann!

Eines Tages ließ er sich einen Laptop bringen, denn so ein erfülltes Leben musste zu Papier gebracht werden. Vielleicht fänden sich auch Leser, aber diesbezüglich war Hannes eigentlich recht zuversichtlich.