Von Michael Kothe

Seit Stunden sitze ich vor einem leeren Blatt Papier, kaue am stumpfen Bleistiftende und schaue aus dem Fenster, ohne die Landschaft da draußen wahrzunehmen. Alles war weiß gepudert, als ich mich hingesetzt hatte, warum sollte es nun anders aussehen? Doch bemerke ich eine Veränderung, denn es ist dunkel geworden. Seufzend hole ich meinen Blick ins Zimmer zurück, mühe mich erfolglos, die zusammengeknüllten Blätter zu zählen, die um mich herum den Teppich zieren. Jedes Blatt ein Beginn, ein vergeblicher Versuch, es dem Ausschreibenden recht zu machen, der mir die Aufgabe gestellt hat. Nein, im Grunde bin der Aufgabensteller ich, denn der sympathische Verlag, der zu dem Wettbewerb aufgerufen hat, hat mich schließlich nur eingeladen.

»Schreibe eine Geschichte über Ruhe, Frieden und Glück!« Ach ja, so kurz wie möglich soll sie sein, stand im Begleittext zur Ausschreibung. 

Nach ungezählten Anläufen drängt sich mir das Gefühl auf, die Muse habe ein Einsehen und käme, um mir den sprichwörtlichen Kuss irgendwohin zu drücken. Vielleicht ist es gar kein Einsehen, sondern nur Mitleid? Doch mein Gefühl trügt, das Knarren der Tür und den Luftzug hat meine Frau verursacht. 

»Kommst du endlich schlafen? Es ist fast Mitternacht, und noch immer sitzt du am Schreibtisch. Wenn du wenigstens etwas Konstruktives machen würdest, aber du schreibst ja bloß!«

Ihr Blick über meine Schulter schmerzt mich beinahe körperlich. Das leere Blatt nimmt sie sicherlich wieder als Offenbarungseid. Für meine ersehnte, aber bislang ausgebliebene Karriere als Schriftsteller. Innerlich seufze ich, werde mich aber hüten, auch nur einen hörbaren Atemzug zu tun. Die Genugtuung, dass ich damit meine Unfähigkeit und Niederlage eingestehen würde, gönne ich ihr nicht. Als ich den Kopf drehe und ihren stechenden Blick mit vorgetäuschtem Selbstbewusstsein erwidere, heimst sie einen neuen Punktsieg ein. Gerade überfliegt sie die Wettbewerbsbedingungen, das Blatt liegt offen auf meinem Schreibtisch. Mir diente es zur Motivation, ihr liefert es die Argumente, mich niederzumachen.

»Ein Schreibwettbewerb? Was ist diesmal der Gewinn?«

»Eine Veröffentlichung in der Anthologie des Verlags.« 

Mein Lächeln ist breit, beim Gedanken, meinen Namen in einem Buch gedruckt zu sehen, wird mir warm ums Herz. Aber nur so lange, bis ich erkenne, wie meine Frau die Augen verdreht und leise aufstöhnt. Wenigstens verlässt sie das Zimmer wortlos und schließt die Tür sacht. Doch die Ruhe ist trügerisch, nur Augenblicke später öffnet sich die Tür erneut. Mit einem Ruck, mit einem Luftzug, der mein Blatt aufwirbelt.

»Wann kommst du endlich ins Bett? Du musst morgen früh raus, und du weißt, was für ein Morgenmuffel du bist, wenn du nicht genügend Schlaf hattest.«

Rumms! Wieder bin ich allein. Denke ich, doch ich habe Unrecht: Neben mir steht unsichtbar die Muse, beugt sich zu mir herab, und – endlich! – küsst sie mich. Zwar nur auf die Stirn, aber dahinter soll bekanntlich wohl der Intellekt sitzen. Den Bleistift lege ich aus der Hand, ziehe meine altmodische Schreibmaschine auf der Tischplatte direkt vor mich und spanne das leere Blatt ein, das mir ursprünglich für meinen Entwurf dienen sollte. Denn mit dem Stift kann ich besser korrigieren, abändern, streichen und überschreiben. Einen Computer habe ich nicht, dessen Technologie und ihre Anwendung sind mir ein Buch mit mehr als sieben Siegeln. Außerdem soll ich meinen Beitrag schriftlich einreichen, schreibt der Verlag. Bevor ich zu tippen beginne, fingere ich einen Briefumschlag aus der Ablage und schreibe säuberlich die Anschrift des Verlags auf die Vorderseite und meine Absenderadresse auf die Rückseite. 

Mit einem breiten Grinsen, das nicht nur meine ganze Zufriedenheit ausdrückt, bringe ich den Brief zu Papier. Zur Zufriedenheit über meinen Einfall hat sich eine gehörige Portion Schadenfreude gesellt, denn schließlich waren es die harschen Worte meines Eheweibes, die mich nun literarisch beflügeln. Absender, Verlagsanschrift, Datum und die übliche  Anrede. Als ich fertig bin, kann ich nicht umhin, meinen Brief noch einmal zu lesen, bevor ich das Blatt falte und im Umschlag der Unsichtbarkeit preisgebe.

 

»Sehr geehrte Damen und Herren, 

mit dem folgenden Beitrag möchte ich an Ihrem Schreibwettbewerb ‚Ruhe, Frieden und Glück‘ teilnehmen. Der Text lautet:

‚Meine Frau schläft.‘«

 

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