Von Björn D. Neumann

„Tolle Idee! Was soll ich mit der Karre bitte am Strand? Wäre ich mal zu Hause geblieben.“ Tims Augen funkelten Lisa an. „Ist eh alles Humbug.“ Mit einer heftigen Armbewegung gab er seinem Rollstuhl Schwung und entfernte sich von seiner Frau, die die jetzt weinende Tochter auf dem Arm hielt.

„Du bist echt ein Ar…“ So gerade konnte sich Lisa bremsen, das letzte Wort auszusprechen. Ihr gemeinsames Töchterchen Emma war in dem Alter, in dem sie neue Worte aufsaugte wie ein Schwamm und zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zum Besten gab. Und Schimpfworte standen bei Emma, ganz hoch im Kurs. „Komm Emma, wir lassen Papa allein schmollen und gehen an den Strand.“ Noch kurz sah sie ihm hinterher und ging dann die Treppen, die von der Promenade zum Strand führten, hinunter.

Tim blickte ihnen noch eine Weile nach, dann verlor er sich in den Weiten der Nordsee. Die untergehende Sonne färbte den Horizont in ein rosa leuchtendes Farbenspiel, das von den blaugrauen Wellen des Meeres aufgenommen wurde. Die Luft roch nach Salz und schmeckte nach der Freiheit, die sich an der Küstenlinie unendlich erstreckte. Das war der erste Urlaub, den sich Tim und Lisa nach dem Unfall gönnten. Nach diesem schicksalhaften Tag, an dem Tim seinem gefährlichen Hobby Motorradfahren abschwor und für sich und seine schwangere Freundin eine Familienkutsche kaufte. Der Tag, an dem er Lisa einen Heiratsantrag machen wollte und er, als ob die Götter ein übles Spiel mit ihm treiben wollten, in dem sicher geglaubten Fahrzeug, schwer verunfallte. Die Ärzte konnten ihn zwar retten, aber die Fähigkeit, wieder gehen zu können, konnten sie ihm nicht wiedergeben. Die Diagnose der Spezialisten war niederschmetternd. Er verfluchte die Welt, sich und auch Lisa. In Trauer und Wut machte er ihr so manches Mal das Leben schwer. Dennoch saß sie jeden Tag Stunden an seinem Krankenbett, begleitete ihn zur Reha und managte nebenbei Beruf, Schwangerschaft und Privatleben. Drei Jahre waren seitdem vergangen, Tim und Lisa verheiratet und die kleine Emma seit zweieinhalb Jahren auf der Welt. Tim merkte selbst, dass er nicht mehr derselbe Mensch war, und er schämte sich für seine Wutausbrüche, wie den gerade eben. Lisa und Emma waren die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben, die er über alles liebte.

Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Entschuldigung, darf ich mich setzen?“

Vor Tim stand eine elegant gekleidete, ältere Dame mit Rollator, die mit einem Finger auf die Bank neben ihm zeigte. Verwirrt antwortete er: „Äh, natürlich.“

„Das ist lieb von Ihnen.“ Mit einem leichten Seufzen ließ sie sich nieder. „Ah, das tut gut! Die alten Knochen wollen nicht mehr so wie früher. Ist das nicht ein herrlicher Ausblick?“

„Kann sein“, antwortete Tim knapp. Ihm war jetzt nicht nach Konversation. Schon gar nicht mit einer wildfremden, unbekannten Frau.

„Wissen Sie“, ließ sich diese jedoch nicht beirren, „das ist unsere Bank. Ich meine von Erich und mir. Erich ist …“, sie stockte kurz. „Erich war mein Mann. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Jedes Jahr haben wir hier Urlaub gemacht. Über 40 Jahre. Und jeden ersten Abend sind wir bei Sonnenuntergang genau zu dieser Bank gekommen und haben aufs Meer geschaut.“

„Und jetzt tun Sie sich das allein an?“, bemerkte Tim wenig einfühlsam.

„Nun ja, es ist schwer. Aber genau hier ist er mir am nächsten. An keinem anderen Ort waren wir glücklicher. Nirgendwo sonst waren wir uns so nahe.“ Kurz in sich gekehrt, griff sie nach einem kleinen goldenen Anhänger in Form einer Herzmuschel, der an einer Kette um ihren Hals hing. Dann straffte sie sich kurz und wies zu der jungen Frau mit dem Kind am Strand. „Ist das Ihre Familie? Ich habe sie schon von Weitem zusammen gesehen. Sie können glücklich sein.“

„Das kann ich wohl.“ Tim war der Gedanke unangenehm, dass die alte Schachtel den Streit beobachtet haben könnte.

„Wie heißen Sie?“, fragte die Dame mit einem Blick über die goldgefassten Brillengläser.

„Tim“, gab er knapp zurück.

„Freut mich, Tim. Ich bin Klara. Sie sollten jetzt bei ihnen sein, Tim.“ Klaras Kopf nickte in Richtung Strand. „Das sind Momente, die man nicht verpassen sollte. Die Momente, die das Leben ausmachen und von denen man später zehrt.“ Wieder ging ihre Hand zu dem Anhänger.

„Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, aber ich sitze im Rollstuhl“, knurrte Tim jetzt merkbar gereizt.

„Und ich sehe da unten Radfahrer, Kite-Surfer und andere Gefährte. Also dürfte das wohl die geringste Ausrede sein“, erwiderte Klara etwas zu spöttisch.

„Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe! Was soll ich Krüppel denn da? Ich bin doch nur eine Belastung.“

„Jetzt hören Sie mir mal zu!“ Klara war erbost. „Sehen Sie den Sonnenuntergang? Spüren Sie die Seeluft? Können Sie sie schmecken? Ja? Ja! Sie können das. Weil Sie leben! Sie können diese Momente genießen. Mein Erich kann das nicht mehr. Ja, Sie sitzen im Rollstuhl. Und ja, das Leben war in diesem Punkt nicht fair zu Ihnen. Aber verflixt, Sie leben. Sie können mit Ihrer Familie noch so viele schöne Dinge erleben. Sie haben Ihre Beine verloren. Ich die andere Hälfte meines Seins. Hören Sie mich jammern? Nein. Weil ich von den Erinnerungen lebe.“ Klaras Blick wurde milde. „Entschuldigen Sie. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Sehen Sie diesen Anhänger? Es ist eine Herzmuschel. Den hat mir Erich geschenkt. Er hat gesagt, dass wir in diese Muschel alle unsere schönen Erinnerungen packen, damit wir sie für immer bewahren. Und diese Erinnerungen schützen mich jetzt davor, komplett durchzudrehen.“

Tim überlegte kurz. „Es tut mir leid, Klara. Sie haben ja Recht. Mein Glück sollte nicht von diesem scheiß Rollstuhl abhängen, sondern von den Menschen, die ich liebe.“

Klara nickte. „Und den gemeinsamen Erinnerungen, die sie schaffen.“

„Aber es ist so verdammt schwer, positiv zu bleiben. Jeder Tag ein neuer Kampf.“

Klara lachte. „Niemand hat behauptet, dass das Leben einfach ist. Auch Erich und ich hatten, wie in jeder Ehe üblich, unseren Streit. Wir waren beide sehr krank und haben uns durch diese Zeiten getragen. Man muss sich auf die schönen Augenblicke konzentrieren. Die machen es wert, den täglichen Kampf aufzunehmen. Und gerade an diesem Ort war uns das immer besonders bewusst.“ Einen Moment lang schwiegen beide und sahen aufs Meer. Klara streichelte gedankenverloren über Tims Arm. „Wie ist es passiert?“

„Ein Autounfall. Ironischerweise an dem Tag, an dem ich mein Motorrad verkauft habe. Jede gute Tat …“, Tim konnte Satz nicht beenden.

„… wird direkt bestraft“, lachte Klara. „Der Satz kommt mir bekannt vor. Aber vielleicht sollten Sie Ihr Schicksal nicht als Strafe ansehen.“

Tim runzelte die Stirn. „Sondern?“

„Als den Preis, den Sie zahlen mussten, um Ihre Tochter aufwachsen zu sehen. Als zweite Chance.“

Verstehend nickte Tim.

„Es ist spät. Ich mache mich auf den Weg.“ Zum Abschied strich Klara noch einmal kurz über Tims Arm, der ihr dankbar zulächelte.

Sie war gerade verschwunden, als Tim die helle Stimme seiner Tochter hörte. „Papi, Papi!“, kam sie auf ihn zugestürmt. „Guck mal!“ Sie sprang auf seinen Schoß und hielt ihm einen sandigen Gegenstand vor die Nase. „Für dich. Eine Muffel.“

„Ich danke dir, mein Schatz!“ Tim drückte Emma fest an sich und schaute mit Tränen in den Augen zu Lisa.

„Wer war das gerade bei dir?“

„Eine sehr kluge Frau! Lisa?“

„Ja?“

„Es tut mir leid. Alles.“

Sanft gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich weiß.“

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