Von Ingo Pietsch

Mit einer Dauerkarte für den hiesigen Fußballverein in der Hand stand ich vor einem der drei Aufzüge im Krankenhaus, um meinen besten Freund zu besuchen.

Die Karte steckte in einem gelben Umschlag mit einem roten Band umwickelt, das in einer Schleife endete.

Momentan waren alle Aufzüge unterwegs, wie die Anzeigen deutlich machten.

Ich wartete zusammen mit anderen Besuchern, Patienten und Personal im Erdgeschoss.

Einige sahen auf ihre Uhren, andere blickten einfach nur umher oder auf ihre Smartphones.

Genervt atmete ich aus.

Ich stand tief in der Schuld meines Freundes.

Meine Lebensgefährtin hatte mich verlassen und ich war in eine Phase des Selbstmitleids verfallen.

Ich hatte Trost im Alkohol gesucht und war ins Auto eingestiegen. Mein Kumpel hatte sich neben mich gesetzt, auf mich eingeredet und versucht mir den Schlüssel abzunehmen. Nach einem Handgemenge hatte ich den Wagen gestartet und war betrunken frontal in einen Baum gefahren.

Den Rest kannte ich nur aus der Zeugenaussage meines Freundes.

Angeblich war er gefahren und ich hatte ihn aus dem Wrack gezogen, bevor dieses in Flammen aufgegangen war.

Danach soll ich bewusstlos geworden sein.

Die Wahrheit sah allerdings anders aus: Er, mit gebrochenem Arm und Rippenprellung, hatte mich aus dem Auto befreit.

Welche Schmerzen er dabei gelitten hatte, mochte ich mir nicht einmal in den schlimmsten Alpträumen vorzustellen.

Ich war nur mit ein paar leichten Blessuren davongekommen. Und dadurch, dass er die Schuld auf sich genommen hatte, konnte ich meinen Job behalten. Mein Chef war sehr pingelig in privaten Angelegenheiten. Er wollte nicht, dass so etwas mit der Arbeit kollidierte. Der Ruf des Museums war sehr wichtig.

Ich arbeitete als Kurator in der Abteilung für Restauration und Instandhaltung von Reliquien, Bildern und Kunstwerken von hohen Werten. Wir waren auf großzügige finanzielle Mittel angewiesen und wenn diese versiegten, blieben auch weitere Aufträge aus.

Die Aufzüge fuhren immer wieder rauf und runter, nur nicht Richtung Parterre.

Ich überlegte schon, die Treppe zu nehmen, aber zehn Stockwerke waren schon eine Menge.

Neben mich gesellte sich eine junge Frau. Ich nahm sie erst gar nicht wahr, weil sie mir nur bis zur Schulter reichte und ich immer noch auf die Anzeige starrte.

Aber dann roch ich ihr Parfum und war sofort an meine Ex erinnert. Sie roch vertraut und hatte es perfekt dosiert, dezent, nicht zu aufdringlich.

Ein leichter Schmerz durchzuckte mein Herz.

Ich schaute zu ihr hinunter. Sie hatte ihre schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden und trug eine Schutzmaske. Ihre leicht mandelförmigen Augen ließen darauf schließen, dass zumindest ihre entfernten Vorfahren aus dem asiatischen Raum kamen.

Sie trug Schwesternkleidung und hielt in den Händen den gleichen Umschlag, wie ich.

Was mir aber ein bisschen komisch vorkam, war, dass sie Wildlederschuhe und anscheinend einen teuren Pullover unter ihrer Arbeitskleidung trug.

Ich hatte in meinem Beruf viel mit Stoffen und Leder zu tun und so etwas bei der Arbeit zu tragen, fand ich sehr ungewöhnlich.

Meine Arbeit beschränkte sich nur auf die Tätigkeiten im Museum. 

Einerseits kam ich nicht viel rum, andererseits hatte ich normalerweise geregelte Arbeitszeiten, außer, wenn ein großer Auftrag ins Haus kam. Dann waren Überstunden ohne Ende angesagt.

„Auch die gleiche Idee gehabt?“, fragte ich völlig uneingenommen.

Die Frau tat so, als hätte sie mich nicht gehört.

Ein bisschen Flirten konnte ja nicht schaden. Oder war ich so aus der Übung?

„Der Umschlag!“, begann ich erneut.

Sie sah zu mir auf. Ihre Mundwinkel zuckten, als würde sie lächeln, dass erkannte ich an der Maske, die sich mitbewegte.

Aber ihre Augen sprachen eine völlig andere Sprache.

Es gab ein Klingeln und die Fahrstuhltüren öffneten sich. Alle stürmten auf den Aufzug los und wir rempelten uns gegenseitig an, dass unsere Karten herunterfielen.

Wir sammelten sie wieder ein und drückten unterschiedliche Stockwerke.

Der Aufzug war gerammelt voll und bei jeder Etage, bei der er hielt, wichen die Leute zurück, als sie sahen, wie überfüllt er war.

Ich quetschte mich in eine Ecke und direkt neben die junge Frau.

Wo ich zuvor noch ein wenig Zuneigung gefühlt hatte, war da jetzt Eiseskälte und ich war froh, als sie sich nach vorne drängelte und schließlich ausstieg.

Meine Gedanken hingen ihr noch zwei Etagen nach. Nachdenklich drehte ich den Umschlag in meinen Händen und stellte, anhand des fehlenden Stempels des Ausstellers fest, dass es nicht der richtige war.

Ich stieg bei der nächsten Gelegenheit aus und rannte die Treppenstufen zur entsprechenden Station hinunter.

Niemand war zu sehen. Vielleicht war gerade eine Besprechung.

Wie sollte ich die angebliche Schwester nur finden? Ich konnte schließlich nicht alle Türen aufreißen.

Langsam schritt ich den Korridor entlang und lauschte immer wieder.

Dann vernahm ich die Geräusche von etwas, als würde jemand Dinge durch die Gegend werfen. Fast nicht hörbar, aber sie waren vorhanden.

Ich schlich an eine der Türen und hörte gedämpft, wie eine Frau fragte: „Wo ist er, wo haben Sie ihn versteckt?“

Ein hustendes Lachen antwortete: „Du wirst ihn niemals finden! Das sollten Sie lieber sein lassen, junge Dame! Ohne mich werden sie keine zwei Meter weit kommen.“

Ich öffnete die Tür möglichst leise und sah die Schwester aus dem Aufzug, wie sie etwas in den Tropf eines alten Mannes spritzte.

„Was tun Sie da?“, fragte ich in festem Ton, obwohl mir die Beine schlotterten.

Die Frau schaute auf und griff hinter ihren Rücken.

Ich ahnte, was jetzt passieren würde und hob beschwichtigend die Hände: „Das wollen Sie doch nicht wirklich?!“

In dem Moment schlug der Alte mit einer Nierenschale zu.

Der Frau entglitt die Waffe und ich stürmte auf sie zu.

Ehe sie die Pistole aufheben konnte, war ich heran und versuchte sie festzuhalten.

Obwohl sie kleiner war wie ich, war sie besser konditioniert, hatte sich Ruck-Zuck aus meinem Griff befreit und mich zu Boden geschleudert.

Der Alte hatte inzwischen den Alarm gedrückt und ich schrie lautstark um Hilfe.

Die Frau überlegte, ob sie ihre Waffe holen sollte, entschied sich aber zur Flucht.

Ich hatte mich am Bett hochgezogen und wollte gegen jedwede Vernunft die Verfolgung aufnehmen, als der alte Mann mich so fest am Handgelenk packte, dass ich fürchtete, dass es brechen würde.

„Christian, nein“, sagte er.

Verdutzt blicke ich ihn an: „Woher kennen Sie meinen Namen?“

„Nichts geschieht zufällig“, antwortete er krächzend. „Nimm das hier, darauf findest du Antworten auf Fragen, die du dir bald stellen wirst. Es ist deine Berufung!“

Er drückte mir einen USB-Stick in die Hand, dann erstarben seine Bewegungen und er atmete nicht mehr.

Und dann geschah das Unglaubliche: Der ohnehin schon alte Mann alterte immer weiter, bis er schließlich zu Staub zerfiel.

Entsetzt wich ich zur Wand zurück. So etwas konnte es einfach nicht geben!

Mehrere Männer in dunklen Anzügen stürmten mit gezogenen Waffen das Zimmer.

Als sie sahen, was geschehen war, wurden sie langsamer, so als wüssten, dass es nichts mehr zu beschützen gab.

Ich hob diesmal die Hände abwehrend vor mich. „Ich kann das erklären.“ Ich blickte zum Bett. „Oder auch nicht.“

Einer der Männer kam auf mich zu und fasst mich sanft am Arm: „Sie brauchen keine Angst zu haben Herr Laubner!“

Ich war wieder irritiert. Anscheinend kannte jeder hier mich, nur ich niemanden.

Einer der anderen reichte dem Führenden den Umschlag, der ihn mir gab.

„Sie können beide behalten. In dem zweiten ist ihr nächster Arbeitsauftrag. Schauen Sie ruhig hinein.“

„Ich arbeite schon für ein Museum und werde ganz sicher nicht für irgendeine wildfremde Organisation arbeiten.“

„Ihre Abteilung arbeitet schon seit Jahren für uns, wir haben Sie quasi herangezogen, damit Sie uns helfen können.“

„Beim Restaurieren?“, fragte ich verdutzt.

„Beim Aufstöbern und sichern von seltenen Artefakten. Schauen Sie in den Umschlag. Die Frau gerade eben wollte auch etwas darüber wissen. Nur leider hat der Professor sein Wissen mit sich genommen. Er ist nicht gerade redselig und gibt nur selten Informationen preis. Er will nicht unnötig in den Lauf der Geschichte eingreifen, sagt er immer.“

Professor, Umschlag,  Artefakte. Es wurde immer unglaublicher. 

Ich öffnete den Umschlag und starrte auf das Foto, das darin enthalten war.

Ich sah den Mann an: „Ist das ihr Ernst?“

„Mein völliger Ernst.“

Das Foto mochte aus der Zeit um den 2. Weltkrieg stammen. Darauf waren ein paar deutsche Soldaten zu sehen, die um einen LKW herum standen. Der Offizier der Truppe hielt einen römischen Speer in den Händen. Unter dem Foto stand „Longinus“.

„Die Lanze des Longinus befindet sich im Moment in Wien. Sie wurde nach dem 2. Weltkrieg von Berlin dorthin gebracht“, gab ich aus meinem Wissensfundus bekannt.

„Das ist nicht ganz korrekt. Die Einheit wollte nach Berlin, kam dort aber nie an. Sie wurde mehrfach angegriffen, aber keiner der Männer verletzt. Schließlich war es der Professor, der übrigens auch auf dem Foto zu sehen ist, der die Lanze entwendete und versteckte. Wir bekamen auch nicht mehr aus ihm heraus, haben aber seine Unterlagen. Hat er noch etwas zu Ihnen gesagt, bevor er „starb“?“.

Ich drückte den USB-Stick in meiner Hand. Er fühlte sich ungewöhnlich warm an. „Nein, er sagte nur: „Trauen Sie niemanden!““.

Der Mann lachte: „Ja, so war er. Er hatte noch viel mehr Geheimnisse. Sie sollten jetzt ihren Freund besuchen gehen, er wartet schon auf Sie. Wir melden uns bei ihnen.“

Ich ging zur Tür hinaus.

„Zwei Sachen noch. Erstens, stehen Sie jetzt unter unserem Schutz. Sie brauchen sich also keine Sorgen um die Lady machen. Und zweitens, der Professor ist nicht zum ersten Mal gestorben. Wir werden ihn sicherlich wiedersehen.“

Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte: „Hätten Sie mich nicht auf irgendeine andere Art und Weise involvieren können?“

Der Mann legte ein schiefes Lächeln auf: „In unserer Welt geschieht kaum etwas nach Plan, aber immer zur rechten Zeit. Hören Sie, ich habe mir das auch nicht ausgesucht, aber mit der Zeit werden Sie lernen damit umzugehen. Das verspreche ich Ihnen. Ach noch etwas: Dass dies alles der Geheimhaltung unterliegt versteht sich von selbst.“ Er schnalzte und zwinkerte mir zu. 

In Gedanken kehrte ich auf den Flur zurück und begab mich zu meinem Freund.

Ich wusste nicht, ob das heute mein Glückstag war oder nicht.

 

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