Von Ina Rieder

 

 

1335 Tage VOR dem Tag null

Über den Zyklus, Eisprünge und neues Leben dachte ich vorher nie nach. Warum auch? Ich lebte mein Leben – allein mit ihm. Das genügte.

Eine Freundin versuchte, schwanger zu werden. Es klappte nicht.

„Die soll sich mal nicht so anstellen! Hat noch bei jeder irgendwann eingeschlagen!“, gab ich belächelnd von mir.

„Da muss man locker bleiben“, meinte ich, „immerhin ist das ja wohl nicht das Wichtigste im Leben. Man kann doch auch ohne Kinder glücklich sein, vielleicht sogar glücklicher“, erklärte ich ihm. „Eines, das sag ich dir“, meinte ich besserwissend, „wenn wir einmal an diesen Punkt angelangt sind, renn ich sicher nicht alle zehn Minuten auf die Toilette und bekomme Depressionen, wenn ich rot sehe!“

1095 Tage VOR dem Tag null

Ich heiratete meinen langjährigen Freund. Ich sehnte mich nach einem Kind. Er brachte ein Buch mit dem Titel „Wie ein Kind entsteht“ nach Hause. Ich war bereit, er auch.

525 Tage VOR dem Tag null

Eines Tages lag ich in der Badewanne. Das Wasser stand mir bis zum Hals, der Badeschaum kitzelte in der Nase. Ich betete, meditierte, sprach im Geiste mit irgendjemanden, einer höheren Macht vielleicht, Gott dem Universum oder wem auch immer.

„Faola!“, tönte es aus meinem Herz.

Diesen Namen vernahm ich zum ersten Mal, fand heraus, dass dieser existierte. Die Bedeutung ließ mich erzittern, ich bebte innerlich.

350 Tage VOR dem Tag null

Ich brütete über Eisprünge nach, setzte mich mit meinem Zyklus auseinander, zerrte meinen Mann bei jeder günstigen Gelegenheit ins Bett. Ich liebte ihn, turnte nachher, streckte Becken und Beine in die Höhe. Ich glaubte, das könnte helfen. Ich weinte, verzweifelte, weil die rote Fee erneut zuschlug, konnte nicht verstehen, warum das Schicksal so grausam mit mir war. Alles drehte sich darum. Ich fühlte mich leer, sinnbefreit. Ich meisterte weitaus schwierigere Situationen. Wieso nicht auch das?

290 Tage VOR dem Tag null

„Ich geh da nicht hin!“, verkündete er.

„Schatz!“, erwiderte ich, „Du darfst dir einen Schmuddelfilm ansehen und wirst ein ‚Happy End‘ haben. Du musst keine Eileiterdurchlässigkeitsprüfung, keine Hormonspritzen, keine vaginalen Untersuchungen und keine Eizellenpunktion über dich ergehen lassen! Herr Gott noch mal“, fluchte ich.

‚Nur in das Becherlein ejakulieren! Bloß das. Es ist nicht meine Schuld, dass deine Schwimmer zu träge sind‘, dachte ich insgeheim.

„Ich möchte nicht, dass irgendjemand erfährt, dass es an mir liegt!“, bekräftigte er, „Du darfst nicht darüber sprechen!“, verbot er mir.

258 Tage VOR dem Tag null – Tag der Eizellenentnahme

Ich spürte jede Punktation, zuckte schmerzhaft zusammen. Kleine Nadelstiche, die in Mark und Bein übergingen.

„Es sind leider nur sieben!“, sagte die Ärztin in einem enttäuschenden Ton.

Sie zog ein Gesicht, als wäre alles verloren.

‚Sieben ist doch eine Zahl der Götter‘, überlegte ich.

250 Tage VOR dem Tag null – Dritter Tag nach der künstlichen Befruchtung

„Zwei der sieben befruchteten Eizellen haben sich weiterentwickelt.“

„Okay, das ist gut, oder?“, erkundigte ich mich.

„Mehr wären besser. Wir könnten dann für den nächsten Versuch gleich welche einfrieren“, meinte die Ärztin.

‚Warum spricht sie jetzt schon von einer weiteren Handlung? Es wird klappen!‘

247 Tage VOR dem Tag null – Tag der Rückführung der befruchteten Eizellen in den Uterus

Ich verharrte mit meinem Mann vor einem Bildschirm. Betrachtete die Keimzellen, die sich mehrmals geteilt hatten. Unsere Kinder sahen wie kleine Maulbeeren aus.

„Wie viele dürfen wir einsetzen? Beide wären besser, sie erhöhen die Aussicht auf eine Schwangerschaft!“

„Ja, beide!“, meinte ich.

Beim Anblick des neuen Lebens dehnte sich mein Herz.

Ich lag auf der Liege, die Beine gespreizt. Ein dünner Schlauch diente als Verbindung zwischen dem Labor und meinem Uterus. Mein Mann stand neben mir, hielt meine Hand.

Er streichelte liebevoll über meinen Kopf. Ich blickte gebannt auf den Bildschirm des Ultraschallgerätes, sah das Ende des Schlauches.

„Sind Sie bereit für Nummer eins?“, ertönte es durch den Lautsprecher.

Ich nickte.

„Bereit!“, bestätigte die Ärztin. „Schauen Sie genau hin!“, forderte sie auf.

Ich starrte voller Neugier auf den Bildschirm. Die kleine Maulbeere purzelte aus dem Schläuchchen.

‚Mein Kind!‘, dachte ich.

Tränen schossen in meine Augen, benetzten meine Wangen. Es kribbelte in meinem Bauch. Ich spürte hundert winzigkleine Bienchen darin vibrieren.

‚Meine Faola!‘, hallte es in meinem Kopf.

Ich war mir zu 100 % sicher, dass sich die Keimzelle einnisten würde! Die Zweite fiel leider unbemerkt hinein. Bei diesem Mal sah ich keine Bewegung. Mein Herz krampfte sich für eine Millisekunde schmerzlich zusammen.

237 Tage VOR dem Tag null – Tag des Schwangerschaftstests mittels Blutabnahme

Ich saß auf einer der Bänke im Wartezimmer. Rutschte hin und her, kaute auf den Nägeln, krallte mich am Arm meines Mannes fest. Meine Gedanken kreisten. Die Türe öffnete sich. Die Ärztin stand im Türrahmen.

„Kommen Sie bitte! Setzen sie sich!“

Ich versuchte, aus ihrem Gesicht zu lesen. Probierte Zeichen zu deuten.

„Gratulation, die HCG-Werte sind sehr hoch!“

Ich überlegte, ob das hieße, dass es geklappt hatte, schaute die Ärztin fragend an.

„Sie dürfen sich freuen, Sie sind eindeutig schwanger!“

Ich sah deinen Vater an, fiel ihm weinend in die Arme. Glücksgefühle durchströmten meinen Körper.

„Es sieht gut aus, jetzt heißt es abwarten!“

‚Wieder warten, neuerlich bangen!‘

219 Tage VOR dem Tag null – Tag des ersten Ultraschalls

Erneut starre ich gebannt auf den Bildschirm. Meine Hände schwitzten, mein Herz hämmerte bis zum Anschlag. Die Anspannung steigerte sich. Dann erblickte ich es: Ein kleines Organ, das regelmäßig pochte.

‚Mein Kind!‘, rief ich innerlich aus, spürte, wie sich die Liebe in meinem Körper ausbreitete.

„Hier sieht man, dass sich das zweite Kind kurzfristig eingenistet hat, es sich aber leider nicht weiterentwickelt hat!“

Ich schluckte, eine Flut an Emotionen durchströmte meinen Körper. Ich habe nie mit meinem Mann darüber gesprochen. Aber in meiner Vorstellung wäre es ein Junge geworden. Ich gab ihm den Namen „Elio“.

Tag null – Tag der Niederkunft

„Das Kind kommt! Der Kopf ist schon zu sehen!“, freute sich die Hebamme.

Verdattert schaute ich deinen Vater an. Es ging so schnell! Fünf Stunden vorher verspürte ich die ersten Wehen.

„Eine Geburt dauert beim ersten Kind durchschnittlich zwischen zehn und achtzehn Stunden!“, trichterten sie mir im Vorbereitungskurs ein.

Meine Tochter war geboren. Einen Monat zu früh, aber gesund. Ich bewunderte mein kleines Mädchen. Ein Wunder der Natur.

„Wie soll sie denn heißen?“, fragte man mich.

„Das ist meine Faola!“, sagte ich voller Stolz.

„Das ist aber ein schöner Name. Hab ich noch nie gehört“, erkundigte sich die Hebamme.

„Faola bedeutet die ‚Glückliche‘!“, antwortete ich.

6570 Tage nach Tag null

„Mama, schau mich bitte an!“

Ich blicke auf. Meine Augen sind gerötet.

„Mama, sei bitte nicht traurig! Du sehntest dich nach mir und ich kam in dein Leben. Du liebtest mich schon lange, bevor ich irgendetwas war!“

Ich drücke dich an mich, sage: „Ich habe dich lieb!“

„Ich dich auch. Ich komme wieder. Versprochen!“

Du steigst in die Bahn, ich winke dir zum Abschied. Ich wünsche dir Glück für deinen Einsatz in Afrika. Der Zug rauscht ab und bringt einen zärtlichen Abstand zwischen uns.

 

 

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