Von Marianne Apfelstedt

„Jetzt gib doch Gas, bevor es rot wird.“ Meine Finger tippen auf das Lenkrad. Eingekeilt zwischen BMW, Golf und einem Hyundai neben mir rolle ich im Schneckentempo auf die grüne Ampel zu. Um diese Zeit zieht sich die Blechlawine endlos durch die Stadt. Mein Fuß drückt das Gaspedal ein wenig nach unten, die Muskeln verkrampfen vom Stop-and-go. Das Handydisplay zeigt keine weiteren Nachrichten von Vera an und der Knoten in meinem Bauch zieht sich zu. Der Passat ist viel zu nah vor mir, als ich wieder durch die Windschutzscheibe blicke. Aus Reflex trete ich das Bremspedal ganz durch und komme direkt an der Stoßstange vor mir zum Stehen. Der Fahrer zeigt mir seinen Mittelfinger durch das offene Fenster. Wütend löse ich den Gurt, um auszusteigen, da meldet sich der ersehnte Signalton meines Handys:
„Sie ist jetzt im OP.“
Diese Nachricht ist nicht beruhigend. Ich haue mit der Faust auf das Lenkrad, dann mit der Stirn und klammere mich daran wie ein Ertrinkender an den Rettungsring. Atme ein und lange aus. Immer wieder. Bis ein Hupen den Rhythmus durchbricht. Mit zittrigen Händen stecke ich den Gurt fest, lege den Gang ein und rolle weiter auf die Ampel zu, die erneut rot leuchtet. Noch einmal wähle ich Veras Handynummer.
„Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar. Bitte sprechen Sie eine Nachricht auf die Mailbox.“ Der anschließende Piepton zerrt an meinen Nerven, die gespannt sind wie ein Gummiband vor dem Zerreißen. Zum x-ten Mal spiele ich Veras Sprachnachricht ab.
„Marie und Kerstin hatten einen Unfall mit dem Motorroller. Beide Mädchen wurden in die Uniklinik eingeliefert. Bin auf dem Weg.“ Die Nachricht ging vor vier Stunden ein, da war ich noch bei einem Einsatz der Löschgruppe in Stadtbergen. Nach dem Dienst zog ich mich um und trank mit den Kollegen eine Tasse Kaffee und wir besprachen die Einsätze. Das Handy steckte ich in meine Tasche, nicht ahnend, welche Info es enthielt.

Ich setze den Blinker und fahre auf den Parkplatz, schleiche an den parkenden Autos vorbei. Mit jeder Reihe, die ich abfahre, steigt mein Puls. Die Versuchung, das Auto auf der Feuerwehrzufahrt abzustellen, ist riesengroß. Endlich. Ein älterer Herr verstaut seine Gehstützen auf der Rücksitzbank und unter mehrmaligem aus dem Fenster sehen rollt er aus seinem Parkplatz. Ich zwänge meinen SUV in die Lücke. Verdammt. Die Fahrertür lässt sich nicht weit genug öffnen. Mit den Füßen voraus rutsche ich auf den Beifahrersitz. Im Gehen tippe ich Vera eine Nachricht.
„Bin an der Klinik. Wo seid ihr?“ Das Handy in der Hand renne ich Richtung Haupteingang, winde mich durch Menschen mit Gehwagen und Besucher, die Rollstühle schieben.

Die Dame an der Information spricht in den Telefonhörer und tippt gleichzeitig auf ihre Tastatur. Ich checke das Handy und sehe, dass Vera meine Nachricht noch nicht gelesen hat. Die Empfangsdame blickt mich abwartend an.
„Meine Tochter Marie Berger wird vermutlich gerade operiert. Sie hatte einen Unfall. Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?“
„Ich sehe mal nach, einen Moment.“ Ihre Finger trommeln auf die Tasten.
„Gehen Sie Richtung Notaufnahme und dann den zweiten Gang rechts, dort ist der Wartebereich für die Operationssäle.“
„Danke.“
„Alles Gute für Ihre Tochter“, ruft sie mir hinterher. Meine Hände sind zu Fäusten verkrampft, das schweigende Handy habe ich in die Jackentasche verbannt.

Schon von weitem sehe ich Vera an einer Infotafel stehen. Sie spürt meinen Blick und dreht sich um.
„Ist Marie noch im OP? Wie geht es ihr? Was ist passiert?“ Meine Fragen torpedieren sie und Vera weicht zurück an die Wand. Ihre Hände verstecken sich in den Taschen ihrer Wolljacke. Ich will endlich Antworten und stelle mich neben sie, blende das Gemurmel der Menschen im Wartebereich aus und zwinge mich, stillzustehen. Sie hebt den Kopf und erzählt mit leiser Stimme.
„Marie und Kerstin waren beim Baden am See. Auf dem Nachhauseweg wurden sie auf der Bundesstraße von einem entgegenkommenden Fahrzeug erfasst.“
„An der Kurve, nach der Abzweigung zum Golfplatz? Dort, wo neulich schon ein Unfall war?“
„Ja, genau dort. Die Mädchen wollten wohl einen Traktor überholen und auf der anderen Seite hat ein Pkw gleichzeitig einen Lkw überholt. Er hat die Mädels frontal erwischt.“
„Warum hast du sie nicht mit dem Auto zum See gefahren?“ Sie verschränkt ihre Arme vor der Brust.
„Ich war nach der Arbeit noch einkaufen. Du hast ihr doch erlaubt, mit Kerstin auf dem Roller zu fahren. Ich habe ja gleich gesagt, dass Kerstin erst mehr Fahrpraxis braucht.“
„Ich dachte, du hast nichts dagegen, dass sie mit Kerstin mitfährt. Das ist nicht dein Ernst. Gibst du mir die Schuld an dem Unfall?“
„Wenn ich ein Veto einlege, bin ich immer die Spaßbremse und du stehst fein da.“ Eine Zornesfalte erscheint auf ihrer Stirn und ich ahne, wie aufgewühlt sie ist.
„Ich war ja gar nicht zu Hause, als die Mädels losgefahren sind.“ Jetzt hat sie sich in Rage geredet. Wut blitzt aus ihren Augen und ihre Stimmer wird lauter.
„Stimmt, so wie du NIE da bist, wenn wir dich brauchen.“
„Ich habe einen Job, genau wie du.“
„Nur bin ich jeden Tag zu Hause, während du nach deinem 24 Stunden Dienst gerne noch mit deinen Kollegen zusammensitzt. Wenn du heimkommst, bist du der super Papa, ihr Held. Ich kann mich durch unseren Alltag kämpfen, mit Hausaufgaben und …“

„Entschuldigung, sind Sie die Eltern von Kerstin Mayer?“, spricht uns eine junge Frau in OP-Kleidung an.
„Ich bin die Mutter von Marie Berger. Familie Mayer habe ich nicht gesehen“, antwortet Vera. An ihrem Hals blühen rote Flecken auf. Fast war ich dankbar für die Unterbrechung. Bin ich wirklich nur Gelegenheitsvater? Dabei sind die Schichtzulagen dringend nötig, um das Haus abzubezahlen.
„Haben Sie vielleicht die Handynummern der Eltern?“
„Ja, natürlich.“ Vera nimmt Stift und Papier und setzt sich auf die Plastikstühle, legt den Zettel auf eine Sitzfläche neben sich und schreibt die Nummern von ihren Kontaktdaten ab.
„Hier bitte. Wie geht es Kerstin?“
„Tut mir leid. Ich kann Ihnen keine Auskunft geben. Ihre Tochter wird in OP vier operiert. Mein Kollege wird sie informieren, sobald er kann. Alles Gute!“ Sie eilt zurück durch die Tür in den OP.

Vera sinkt auf den Plastikstuhl, der mit der Wand verschraubt ist. Sie meidet meinen Blick und stützt ihren Kopf in die Hände. Mit Abstand setze ich mich ebenfalls. Der Zeiger an der Uhr kriecht wie eine Schnecke weiter. Bin gefangen im Sirup der Zeit. Die Ellenbogen gestützt auf den Oberschenkeln, halten meinen Kopf. Meine Haare verdecken die feuchten Spuren auf den Wangen. Wie in einem Diafilm ziehen Fotos vorbei. Marie mit Babyflaum und blauen Augen. Marie und Vera pusten drei Kerzen auf dem Schokoladenkuchen aus, strahlendes Lächeln aus zwei Augenpaaren. Marie ohne Stützräder auf dem Fahrrad. Wie oft habe ich ihre Knie mit Pflastern versorgt. Ich schlucke hart und wische mir verstohlen über die Augenwinkel, blicke nach links. Veras Augen sind geschlossen, den Rücken gerade aufgerichtet lehnt sie an der Wand. Verwischte Mascara-Daunen unter ihren Augen. Ihre Zornesfalte hat sich geglättet, die Arme überkreuzt, hält sie sich eng umschlungen, spendet sich selbst Trost. Nach den Vorwürfen sind uns die Worte ausgegangen. Jetzt leidet jeder für sich, kämpft mit den Ängsten im Kopf, während hinter den Türen im OP die Ärzte um das Leben unserer Tochter kämpfen. Schwerfällig erhebe ich mich von dem Sitz, um einen Kaffeeautomaten zu suchen.

Wieder zurück im Wartebereich sehe ich Kerstins Eltern. Ihre Mutter schluchzt und versinkt in Veras Umarmung, der Vater starrt zu Boden. Ich trete zu Ihnen, die Becher mit dem Heißgetränk in den Händen werden zentnerschwer. Franck Mayer blickt mich an und beantwortet meine lautlose Frage mit einem Kopfschütteln. Stumm schlucke ich, mein Kopf ist leer, aller Worte beraubt. Hilflos drücke ich Franck einen Becher in die Hand, den er wortlos annimmt. Er hält ihn in beiden Händen vor der Brust, Anker und Schild.

„Familie Mayer, bitte begleiten Sie mich!“ Ein Mann in Einsatzkleidung tritt zu uns. Er nimmt Frau Mayer am Arm und legt ihr die Rechte tröstlich um die Schultern. Franck folgt den beiden, auf dem Rücken des Fremden lese ich KIT Bayern. Kriseninterventionsteam. Meine Härchen am Arm stellen sich auf und ich trinke schnell einen Schluck des Kaffees, um den Knoten im Hals zu lösen. Vera steht da, den Kopf gesenkt, wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt wurden. Durchschnittene Lebensfäden. Hölzern überwinde ich die Schritte bis zu ihr, berühre zaghaft ihren Arm. Ihre Augen umspült mit Tränen, sind mehr, als ich in diesem Moment ertragen kann. Meine Löwin hat sich in ein Kätzchen verwandelt. Sie legt ihre Stirn an meine Brust. Ganz vorsichtig halte ich sie, lege meine Wange auf ihr Haar und dränge meine Tränen zurück, mime den Starken und streiche ihr über den Rücken.
Überrascht drehe ich den Kopf zur Seite, als ich eine Hand an meiner Schulter spüre.
„Sind sie die Eltern von Marie Berger?“ Die Frage kommt von einem Mann in OP-Kleidung, der seinen Mundschutz soeben in die Tasche seiner Tunika steckt. Ich nicke, weil ich meiner Stimme nicht traue, suche Veras Hand und halte sie fest in meiner.
„Ich bin Dr. Speyer und habe ihre Tochter operiert. Marie wird gerade in den Aufwachraum gebracht, sobald die Vitalwerte stabil sind, können Sie zu ihr. Sie hatte eine Beckenschaufelfraktur und eine Oberschenkelfraktur. Den Oberschenkel haben wir mit einer Platte verstärkt. Die Lendenwirbelsäule hat glücklicherweise nichts abbekommen. Ihre Tochter wird wieder völlig gesund werden. Einige Narben werden Sie an diesen Tag erinnern.“ Lächelnd blickt er von mir zu Vera, die schweigend meine Hand umklammert. Ganz langsam sickern seine Worte in meine Gehirnwindungen. Neuronen feuern und vernetzen sich. Meine Mundwinkel ziehen sich nach oben und ich spüre Tränen an der Wange. Ich umarme diesen fremden Menschen, der Maries Leben gerettet hat. Marie und Vera und ich, eine Kleeblattfamilie.

Version 3 / 9913