Von Rosa Pessl

 

Sanft streicht Jakob über den schwarzen Stein, so als wäre es ihre Haut. Er schließt die Augen und hört sie lachen. Wie sehr er dieses helle Lachen liebte; wie schmerzlich er es vermisst. Er sieht sie mit ihm fröhlich den Strand entlangtänzeln. Ihre langen blonden Haare wehen im Wind. Die letzten Sonnenstrahlen färben den Himmel rot. Plötzlich bleibt sie stehen und sieht ihn verliebt an. Er nimmt sie in den Arm und sie küssen sich innig. Das war 1991 am Strand von Santorin, ihr erster gemeinsamer Urlaub. Jetzt – dreißig Jahre später – am Grazer Zentralfriedhof erstarrt Jakob. “Ich weiß nicht mehr, wie sie gerochen hat. Ich weiß nicht mehr …“, murmelt er fassungslos vor sich hin. So sehr er sich auch anstrengt, er kann ihren Geruch nicht mehr fassen. Aber ihr Lachen, dieses wunderbare Lachen. Es ist noch da, als hätte er es gestern das letzte Mal gehört. Dabei ist sie schon zwei Jahre tot. In diesen zwei Jahren, genauer gesagt in diesen 744 Tagen, ist Jakob jeden Tag zu ihr gefahren. Immer dabei ein weißer Klappstuhl und ein zerfledderter Gedichtband. Jakob klappt den Stuhl auf, setzt sich behäbig darauf, kramt nach seiner Lesebrille und zieht den Gedichtband hervor. Mit leiser Stimme liest er ihr vor:

 

“Die Stille

 

Hörst du, Geliebte, ich hebe die Hände –

hörst du: es rauscht…

Welche Gebärde der Einsamen fände

sich nicht von vielen Dingen belauscht?

Hörst du, Geliebte, ich schließe die Lider,

und auch das ist Geräusch bis zu dir.

Hörst du, Geliebte, ich …”

 

Jäh wird er durch das Klingeln seines Handys unterbrochen.

 

„Ja“, brummt er ins Telefon.

„Papa, wo bist du?“

Wie sehr sie doch ihrer Mutter ähnelt, denkt sich Jakob und entgegnet: „Am Friedhof!”

„Bist du mit dem Auto unterwegs?“

Trotzig blickt Jakob zu Boden: „Nein, mit dem Bus.“

„Das letzte Mal bist du mit dem Auto gegen die Einbahn gefahren. Papa! Du weißt, das ist gefährlich.“ Kurze Pause, dann bohrt sie nochmals nach: „Also bist du wirklich mit dem Bus gefahren?“

„Ja, wenn ich’s doch sage“, grummelt Jakob und legt auf.

 

Etwa 30 Kilometer südlich klingelt ebenfalls ein Handy, gerade als Thorsten seinen Porsche aufsperren will. Er sieht auf die Uhr. „Verdammt!“, entfährt es ihm in weiser Voraussicht auf das kommende Gespräch.

***

„Wo bleibst du schon wieder?“, tönt es schrill an seinem Ohr.

„Bin in 20 Minuten bei dir“, versucht Thorsten zu beruhigen.

„Es ist 10 Uhr dreißig! Heute ist dein Tag, ich habe einen Friseurtermin und möchte auch endlich mal wieder Zeit für mich haben. Außerdem heult Sonja und glaubt, du kommst schon wieder nicht. Wir haben vereinbart, dass du sie jeden Samstag pünktlich um 10 Uhr abholst. Um 10 Uhr, hörst du? …“ Pausenlos prasseln Vorwürfe auf Thorsten ein. „Ich bin in 20 Minuten da! Bin unterwegs!“, unterbricht er, während er seine Aktentasche auf den Beifahrersitz wirft, sich in das Auto schwingt und auflegt. Keine zwei Minuten später ruft sie wieder an. „Ich habe überdies mit meiner Anwältin gesprochen. So geht es nicht weiter. Du kommst entweder gar nicht oder bist viel zu spät. Ich muss mich auf dich verlassen können. Sonja, unsere Tochter, deine Tochter, muss sich auf dich verlassen können! Ich werde das alleinige Sorgerecht beantragen. Ich …“.
„Elisabeth, …“ versucht Thorsten zu beschwichtigen, doch ohne Erfolg.

***

Vor dem Grab sitzend beginnt Jakob zu frösteln. Die Frühlingssonne ist noch zu schwach, um ihn zu wärmen; der heiße Tee aus der Thermoskanne und die Verse von Rilke tun es heute auch nicht. Liebevoll verabschiedet er sich von seiner Frau und trottet zum Parkplatz. Suchende Blicke durchstreifen die Autoreihen. Bei seiner Ankunft waren hier nur wenige Autos, jetzt ist alles voll geparkt. Jakob marschiert durch die Reihen, um sein Auto zu finden. Nach jeder Reihe steigt seine Verzweiflung. Seit ein paar Wochen hat Jakob Probleme, sich zu orientieren. Oft vergisst er das, was er gerade machen wollte. Jetzt werden seine Schritte immer schneller; Schweißperlen sammeln sich auf seiner Stirn. Endlich kommt ihm eine Idee: Er bleibt stehen, nimmt den Schlüssel aus seiner Tasche und drückt auf die Fernbedienung. Das Auto links neben ihm beginnt zu blinken. Erleichtert und gleichzeitig irritiert darüber, dass er sein Auto nicht gesehen hat, schüttelt Jakob den Kopf. Er setzt sich hinter das Lenkrad, doch ist er noch zu aufgeregt, um loszufahren.

***

Thorsten steigt wütend auf das Gas. Er hat das Gespräch mit seiner baldigen Exfrau beendet, überhaupt scheint reden sinnlos geworden zu sein. „Anwalt Harrer anrufen“, diktiert er seiner Freisprecheinrichtung. Erst als das Freizeichen ertönt, besinnt er sich, es ist Samstag. In der Kanzlei wird er jetzt niemanden erreichen. Seufzend legt er auf. „Fahr weiter, du Penner!“, schreit er auf einmal entnervt. Hart landet seine Hand auf der Hupe. Einmal, zweimal. Nach dem dritten Mal schert er blindlings aus und überholt das Hindernis – nicht ohne zu gestikulieren. Plötzlich fällt es ihm ein, dass er über die Autobahn wohl schneller ist. Er reißt das Lenkrad herum, zwängt sich rücksichtslos zwischen zwei Fahrzeugen hindurch und folgt dem Schild A2.

***

Am Parkplatz des Zentralfriedhofes klopft jemand an die Scheibe. Jakob erschrickt, dann öffnet er die Fahrertür. „Ist alles in Ordnung?“, will eine besorgte Stimme wissen. Verdattert sieht sich Jakob um. Er ist hinter dem Lenkrad eingenickt. Ja, signalisiert er, startet seinen Wagen und fährt langsam los. Wie ferngesteuert folgt er der Aufschrift A2 stadtauswärts. Warum er die Stadt verlassen und nicht nachhause gefahren ist, das wird ihn in wenigen Stunden seine Tochter fragen. Er wird genauso verzweifelt nach einer Antwort auf diese Frage suchen, wie er jetzt in seinem Kopf versucht, die Verse von Rilke zu finden. Früher, da hatte er ein gutes Gedächtnis und konnte jedes Rilke-Gedicht frei rezitieren. Heute wollen ihm die Verse nicht mehr einfallen.

 

“Hörst du, Geliebte, ich hebe sie wieder…

…aber warum bist du nicht hier.

Der Abdruck meiner kleinsten, kleinsten …

***

Es geht einfach nicht, ärgert er sich und dreht das Radio auf: „Achtung, Autofahrer. Auf der Strecke zwischen Graz West und Lieboch kommt Ihnen ein Geisterfahrer entgegen. Bitte bleiben Sie in beiden Richtungen rechts und überholen Sie nicht.“ In diesem Moment sieht Jakob etwas Rotes auf ihn zurasen. Geistesgegenwärtig reißt er das Lenkrad zur Seite und kracht in die Leitschiene. Der Airbag öffnet sich. Er spürt den stechenden Schmerz seiner brechenden Rippen. Thorsten sieht Jakobs Manöver, rauscht vorbei, vor ihm ein LKW. Er tritt voll in die Bremse, der Wagen kommt ins Schleudern und prallt mit dem Heck gegen die Mittelleitschiene.

***

10 Minuten später: „Ö3 Verkehrsfunk. Ein Unfall auf der Südautobahn zwischen Graz und Lieboch. Die Autobahn ist gesperrt. Der Geisterfahrer …“ Schon sehen Jan und Eva den Stau vor sich. Jan rollt langsam heran und reiht sich ein. Sie sind auf dem Weg zum Flughafen und zu spät dran. „Das schaffen wir nicht mehr! Weil du immer so lange brauchst. So ein verdammter Mist!“, flucht Jan.

Nach einer Weile unterbricht Eva die betretene Stille im Fahrzeug: „Wir haben Glück.“

„Wie kommst du jetzt auf diese bescheuerte Idee? Lass mich bitte mit deinem Eso-Wahnsinn in Ruhe!“ Jan ist noch immer sauer.

Eva: „Stell dir vor, wir wären 10 Minuten früher dran gewesen und der Geisterfahrer hätte uns erwischt …“

***

Jakob hört wieder ihr Lachen. Er sieht sie mit ihm den Strand entlang tänzeln. Dann dieser Kuss. Rosen. Sie riecht nach Rosen. Sie hat immer nach Rosen gerochen. Jetzt weiß es Jakob wieder und öffnet seine Augen. Kreisrunde Lampen blenden ihn, in seinem Arm steckt eine Nadel. Die Infusionsflasche tropft unaufhörlich. Piepsende Geräusche. „Herr Müller, Sie hatten einen Unfall und sind hier im UKH. Ein Mann im Arztkittel, Brille und Maske beugt sich über ihn. Kurz darauf döst Jakob wieder weg. Die Narkose beginnt zu wirken.

 

Als der Arzt sicher ist, dass ihn Jakob nicht mehr hört, sagt er: „So ein Unfall! Der Porschefahrer unverletzt und auch seine Rippen werden wieder heilen.“

„Die beiden hatten Riesenglück!“, pflichtet ihm die Operationsschwester bei.

„Mit fast 85 noch Autofahren ist einfach ein Risiko“, meint der Arzt nachdenklich.

„Wieso?“, wundert sich die Operationsschwester, „Der junge Porschefahrer war in die falsche Richtung unterwegs!“

 

 

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