Von Franck Sezelli

Das Meer lag heute ganz ruhig vor ihnen, nur leises Plätschern war zu hören. Die verschiedenen Blautöne der Wasseroberfläche, die durch die Sonne, Wolkenschatten und unterschiedliche Wassertiefen verursacht wurden und die am Horizont in die Farben des Himmels übergingen, begeisterten Franck. Wie oft in der letzten Zeit saß er mit Elisabeth nach einem kleinen Spaziergang auf ihrer Bank an der Strandpromenade. Also, nicht auf Elisabeths Bank, sondern auf der, die sie beide seit Jahren ihre nannten, weil es ihr Lieblingsplatz war.

Die Sonne schien warm auf sie herab und Franck überlegte, ob er sein T-Shirt ausziehen sollte, um die Wärme voll auf der Haut zu spüren und die Vitamin-D-Produktion anzukurbeln. Es war Mitte Januar und dementsprechend waren sie fast allein. Nur an der Wasserlinie am Strand schlenderten ab und zu ein paar Leute entlang, die sich aber hauptsächlich mit dem Sammeln von Muscheln beschäftigten. Auch die wenigen, die auf dem Weg direkt an ihnen vorbeikamen, interessierten sich nicht weiter für das alte Paar, auch wenn die meisten ein höfliches »Bonjour« für sie übrig hatten.

»Ich bin glücklich, hier zu sein«, sagte Elisabeth auf einmal ohne ersichtlichen Anlass und legte ihren Kopf auf Francks Schulter.

»Ich ja auch!«, stimmte er zu. »Aber wie kommst du jetzt auf einmal darauf?«, fragte er nach, von dem Gefühlsausbruch etwas überrascht. Seine Frau war eher nicht so romantisch.

»Ich bin einfach froh, dass wir hier sind.«

»Klar, ich habe unseren Entschluss von damals auch noch nie bereut. Weißt du, dass wir jetzt schon über zehn Jahre hier wohnen?«

»Anfang März werden es elf Jahre!«

Beide schwiegen und hingen ihren Gedanken nach. Es war ein entspanntes, einvernehmliches Schweigen.

»Erinnerst du dich, was viele damals sagten? In eurem Alter wollt ihr das machen? Das ist ja wie ein völliger Neubeginn. Ihr traut euch was!«

Franck meinte: »Damals waren wir doch noch jung, jedenfalls fühlten wir uns so …«

»Richtig, zehn Jahre jünger und voller Elan!«

»Ganz einfach war es aber auch nicht«, erinnerte sich Franck, »bei der Auflösung unserer Wohnung alles sichten und sich von fast allem trennen – das war manchmal schon hart. Wir haben damals unseren Kindern sicher eine Menge Arbeit abgenommen, die irgendwann auf sie zugekommen wäre.«

Franck sah vor seinem geistigen Auge die vielen Bücher, von denen sie sich trennen mussten. Die Bibliotheken und auch Antiquariate waren keine Hilfe gewesen. Sie hatten Glück, dass sich auf ihre Annonce ein Bücherfreund meldete, der dann alle auf einmal abgenommen hatte.

Elisabeth, die früher mal im Buchhandel und Verlagswesen beschäftigt war, fragte: »Denkst du auch an den Mann, der unsere Bücher abgeholt hat? Ob er sie wirklich für seinen großen Lesekreis, den er angeblich hatte, in einer Garage untergebracht hat? Erzählt hatte er das. Egal, wir waren glücklich, die Bücher nicht wegwerfen zu müssen. Das hätten wir kaum fertiggebracht.«

»Es ist sowieso ein Riesenglück, dass wir hier sein können«, brachte Franck einen neuen Gedanken in ihr Gespräch. »Wir hätten doch früher nie daran geglaubt, dass wir beide mal hier am Mittelmeerstrand sitzen, sogar hier wohnen …«

»Normalerweise kam man bei uns nicht auf solche Ideen. Wir wagten das nicht einmal zu träumen. Und das, obwohl wir beide Französisch in der Schule hatten, was ja auch recht selten war.«

Franck nickte und legte seinen Arm um die Schulter seiner Frau. »Wir beide einmal zusammen in Frankreich! Manchmal kommt mir das heute noch wie ein Wunder vor …«

»Eigentlich sind es eine ganze Reihe von Wundern«, betonte Elisabeth und sah Franck an.

»Du hast recht! Wir mussten ja erst einmal wieder zusammenkommen …«

»Weißt du, Schatz«, meinte Elisabeth, »ich glaube, dass es ein großes Glück war, dass wir uns damals getrennt hatten. Sonst wären wir heute wahrscheinlich geschieden.«

»Bestimmt! Wir waren viel zu jung, da ist man wenig tolerant. Mit uns jetzt in Frankreich – das wäre dann nichts geworden.« Franck lächelte glücklich. »Es ist alles gut, wie es gekommen ist.«

»Ja, und wir müssen auch die Zeit, in der wir nicht zusammen waren, nicht bereuen. Sie hat uns zu dem gemacht, was wir jetzt sind. Allerdings wäre ich nach meiner Scheidung damals nicht so schnell wieder eine Beziehung eingegangen, wenn ich dich nicht von früher her gekannt hätte.«

»Das war noch so ein glücklicher Zufall, dass wir zur selben Zeit wieder frei waren. Das Schicksal – oder wer immer da die Hand im Spiel hat – hat es schon gut mit uns gemeint.«

Aus dem Hafen schob sich gerade ein Segelboot. Sie verfolgten es mit den Augen, bis es im Dunst des Horizonts verschwunden war.

»Die Wende hat auch eine große Rolle gespielt«, sagte Elisabeth mit Überzeugung. »Andere sind in ein großes Loch gestürzt, Arbeitslosigkeit und so, wir hatten Glück, dass uns das nicht voll getroffen hat beziehungsweise wir manches gemeinsam auffangen konnten. Durch die Wende ist Frankreich für uns überhaupt erst möglich geworden.«

Franck überlegte und erinnerte seine Frau: »Zwar haben wir gleich unsere Hochzeitsreise nach Paris gemacht, aber dann haben wir Frankreich erst einmal für Jahre gemieden. Wir wollten noch andere Länder kennenlernen und hatten einiges nachzuholen.«

»Es war«, meinte Elisabeth nachdenklich, »als ob wir wussten, dass wir dann von diesem Land nicht mehr loskommen, wenn wir einmal dorthin reisen.«

»So kam es dann ja auch! Ich bin wirklich glücklich, jetzt hier zu sein.« 

Beide saßen noch eine kleine Weile und schauten aufs Meer hinaus. Dann sagte Franck: »Komm, lass uns nach Hause gehen! Von unserem Stollen ist noch etwas übrig, wir könnten ein Glas Muscat de Noël dazu trinken. Eine Flasche wartet noch im Kühlschrank.«

 

In ihrem kleinen Häuschen angekommen, meldete sich das Handy. »Das ist aber schnell gegangen, war doch noch gar nicht an der Zeit. Schau mal!« Franck hielt seiner Frau das Display hin. Auf dem dort zu sehenden Foto lag die Tochter im Bett, im Arm ein Baby, und lachte glücklich. Elisabeth las die Nachricht vor: »Yasmin 11:21 Uhr gesund angekommen, 3320 Gramm, 49 cm. Mutter und auch Vater wohlauf. Und dann ein lachendes Smiley.«

»Da ist ja alles in Ordnung, prima! Ich dachte, es ist noch eine Woche Zeit. Und das am Dreizehnten!«

»Ein echter Glückstag! Wir haben ja auch am Dreizehnten geheiratet …«

 

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