Von Angelika Brox

Peng! Hinter mir hat es geknallt. Erschrocken reiße ich den Kopf herum.
Der Laternenmast! Auch das noch! Als hätte ich nicht schon genug Probleme!
Ich springe aus dem Wagen und sehe nach.
Tatsächlich, ich habe beim Ausparken die Straßenlaterne gerammt. So was ist mir noch nie passiert. Der Mast sieht heil aus, aber die Beule im Heck wird bestimmt teuer.
Mist, elender!
Ich setze mich wieder ins Auto und hole ein paarmal tief Luft. Am liebsten wäre ich heute überhaupt nicht aufgestanden – nach diesem Abend und dieser Nacht. Gestern haben Thorben und ich fürchterlich gestritten. Zwischendurch schien sich immer mal wieder eine Versöhnung anzubahnen, aber bald darauf ging die Diskussion von vorne los. Schließlich schrie ich entnervt: „Wenn du alles so schrecklich findest, dann geh doch!“ Womit ich nie gerechnet hätte: Er nahm mich beim Wort.
Nachdem er gegangen war, konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen. Irgendwann gegen Morgen schaffte ich es endlich, einzuschlafen. Gefühlt zehn Minuten später klingelte der Wecker. Im Badezimmer konnte ich mit viel kaltem Wasser und jeder Menge Make up mein Gesicht halbwegs restaurieren. Das Schminken dauerte natürlich doppelt so lange wie sonst. Zum Frühstücken hatte ich weder Zeit noch Lust; ich trank schnell einen Kaffee im Stehen und packte einen Apfel und einen Schokoriegel in die Tasche.

So hocke ich nun hinterm Lenkrad und könnte schon wieder heulen. Aber davon würde nur die Wimperntusche verlaufen. Wenn ich mich einfach krankmelden könnte! Dummerweise soll ausgerechnet heute der Klassenausflug stattfinden. Darauf freuen sich die Kinder schon seit Wochen, der Reisebus ist bestellt, eine Begleitmutter angeheuert – da muss ich jetzt durch!

Seufzend starte ich den Motor und brause los. Unterwegs ziehe ich die Mundwinkel nach oben; ein super Trick der Management-Trainerin Vera Birkenbihl: Wenn du diese Grimasse sechzig Sekunden lang durchhältst, denkt dein Gehirn, du hättest gute Laune, und schickt positive Gefühle.
Pünktlich zum Klingelzeichen finde ich einen Parkplatz vor der Schule. Der Bus wartet bereits, meine 1b springt aufgeregt auf dem Schulhof herum und Frau Möller, die Begleitmutter, winkt mir fröhlich entgegen.
Ich straffe die Schultern, lächle und rufe: „Guten Morgen!“
„Guten Morgen, Frau Funke!“, kommt die vielstimmige Antwort.
Die Kinder stellen sich paarweise auf und ich zähle sie, während sie in den Bus einsteigen.
„Dreißig. Alle da. – Es kann losgehen“, sage ich zum Fahrer.
Erleichtert lasse ich mich in den Sitz neben ihm sinken und schließe die Augen. In der nächsten halben Stunde bin ich zum Glück nicht gefordert. Die Kinder sitzen brav auf ihren Plätzen und plappern durcheinander wie eine muntere Schar Spatzen.
Kurz vorm Ziel fühle ich mich einigermaßen fit. Ich drehe mich um, rufe: „Sollen wir dem Busfahrer als Dankeschön unser neues Lied vorsingen?“ und fange auch gleich an: „Ein kleiner Pinguin steht einsam auf dem Eis …“
Sofort fallen alle ein: „Pitsch, patsch, Pinguin …“
Nur Andrij singt nicht mit. Er ist noch nicht lange in Deutschland. Bis vor Kurzem hat er kein Wort gesprochen. Zum ersten Mal hörte ich seine Stimme, als wir den Buchstaben P lernten. An diesem Tag hatte ich meinen Campingkocher und einen großen Topf mitgebracht und Popcorn gemacht. Von den fertig aufgepoppten Maiskörnern legte ich jedem Kind eine kleine Portion auf eine Serviette. Weil am Schluss ein Rest übrig blieb, fragte ich: „Wer möchte noch etwas?“
„Iiich!“, rief Andrij.

Der Bus hält vor dem Eingang zum Zoo. Am Kassenhäuschen warten bereits zwei andere Klassen. Ich lasse meine 1b dahinter Aufstellung nehmen und bitte Frau Möller, am Ende der Gruppe zu bleiben. Sie soll aufpassen, dass wir unterwegs niemanden verlieren. Die Kinder sind gespannt und energiegeladen wie Hundewelpen. Als ich an der Reihe bin, halte ich mein Handy hoch, zeige das E-Ticket und marschiere meinem Rudel voran.
Rechts kommt zuerst das Pinguinbecken in Sicht. Die großen Vögel watscheln auf Felsen umher oder hopsen mit einem Bauchplatscher ins Wasser. Wir bewundern, wie elegant sie schwimmen und tauchen.
„Pinguin fängt mit P an“, bemerkt Frieda, die Tochter von Frau Möller.
„P“, sagt Andrij. „Popcorn. Pinguin.“
„Richtig“, lobe ich. „Was wisst ihr denn über Pinguine?“
Die Kinder wiederholen, was sie im Unterricht gelernt haben, und ich bin sehr zufrieden mit ihnen. Wenn ich schon in der Liebe ständig scheitere, so bin ich zumindest eine gute Lehrerin.
Weiter geht es zu den Bären, Giraffen, Elefanten, Löwen, Zebras und Affen. Auf den Wegen wird es immer voller. So kurz vor Ende des Schuljahres hatten wohl viele Lehrer dieselbe Idee. Ich dirigiere meine Schar zum Spielplatz und setze mich auf eine Bank, um zu verschnaufen. Kaum schließe ich die Augen, taucht Thorbens Gesicht vor mir auf. Schnell öffne ich sie wieder und schüttele mich wie ein nasser Hund.
Während ich die Kinder beim Spielen beobachte, fällt mir plötzlich ein, dass ich an den letzten Stationen vergessen habe, sie vor dem Weitergehen zu zählen. Heute ist wirklich nicht mein Tag.
Schnell rufe ich sie zusammen und zähle meine Schar durch.
Neunundzwanzig.
Das darf nicht wahr sein!
Ich lasse sie in Zweierreihen antreten.
Mohammed bleibt ohne Nachbarn.
„Andrij ist nicht da“, sagt er.
Oh nein!
Mein Mund wird trocken.
Ich bitte Frau Möller, bei der Klasse zu bleiben, und renne los, den ganzen Weg zurück.
Zuletzt waren wir bei den Affen.
Von dort ertönen schrille Schreie. Menschen drängen sich vor dem Gehege und deuten mit Fingern auf etwas, was ich nicht erkennen kann. Sofort fällt mir die Horrormeldung ein von dem kleinen Jungen, der in den Sicherheitsgraben gefallen war und von einem Gorilla herumgezerrt wurde. Um den Jungen zu retten, musste der Gorilla erschossen werden.
Ich gehe nie mehr in den Zoo!
Voller Panik stütze ich mich auf die niedrige Mauer. Eigentlich will ich nicht hinsehen. Aber ich muss!
Auf dem Affenfelsen jagen sich zwei Schimpansen und streiten um eine alte, löchrige Decke. Kreischend zieht jeder an einem Ende. Die Leute lachen.
Weit und breit kein Andrij.
Wo steckt er bloß?
Wenn er sich verlaufen hat, kann er nicht mal um Hilfe bitten!
Ich renne weiter, schaue in jedes Gehege und frage jeden Erwachsenen: „Haben Sie einen kleinen Jungen gesehen? Sechs Jahre, braune Haare, gelbes T-Shirt, blaue Fleece-Jacke?“
Alle schütteln bedauernd den Kopf. Ich beneide sie. Die spazieren gemütlich und sorgenfrei mit ihren Klassen durch den Zoo. Und ich? Heute Morgen habe ich mich wegen einer blöden Beule im Auto aufgeregt. Habe gejammert wegen einer noch blöderen Beule in meinem Ego. Nicht zu fassen! Das muss in einem anderen Leben gewesen sein.

Schließlich komme ich zum Pinguinbecken. Pinguine! Die haben Andrij ganz besonders fasziniert!
Mit hämmerndem Herzen trete ich an die Absperrung.
Lieber Gott, lass ihn nicht reingefallen sein!
Auf dem Grund des Beckens liegt eine dunkle Gestalt. Reglos. Die Sonne scheint auf das Wasser, die schimmernden Wellen lassen die Umrisse unscharf erscheinen.
„Andrij!“, schreie ich und klettere über den Zaun. Mit meiner Jacke bleibe ich irgendwo hängen, reiße mich los und falle ins Gras. Rappele mich auf. „Andrij!“ Stürme zum Beckenrand, zwinge meine Augen hineinzusehen, halte den Atem an … Das Dunkle ist bloß der Schatten eines Felsvorsprungs. Keuchend stoße ich die Luft aus.
„Hallo!“, ruft eine weibliche Stimme hinter mir.
Ich drehe mich um. Am Zaun steht eine Frau – mit Andrij an der Hand.
„Suchen Sie den hier?“
Die Erleichterung wirft mich beinahe um. Meine Knie werden weich, das Karussell im Kopf macht eine Vollbremsung, mir wird kurz schwindelig. Ich laufe zum Zaun, klettere hinüber und sinke vor dem kleinen Jungen auf die Knie. Am liebsten hätte ich ihn an mich gerissen und stürmisch umarmt. Doch ich beherrsche mich und streiche sanft über seinen Rücken.
„Da bist du ja. Wie schön!“
Die Frau erklärt: „Er ist aus Versehen mit meiner Klasse mitgelaufen. Wir haben es eben erst gemerkt und ich wollte ihn gerade am Kassenhäuschen abgegeben.“
„Danke“, sage ich, „vielen Dank.“
Dann zwinkere ich Andrij zu, frage ihn: „Wer möchte Schokolade?“ und er ruft: „Iiich!“

Seite an Seite stehen wir am Zaun und beobachten die Pinguine. Sie können nicht fliegen und nicht sitzen und sie watscheln ungelenk, weil ihre Beine so weit hinten angebracht sind und sie ihre Knie nicht beugen können. Doch in ihrem Element bewegen sie sich kraftvoll und anmutig.
Andrij isst meinen Schokoriegel, ich beiße in den Apfel.
„Die fliegen im Wasser“, sagt Andrij.
„Ja, genau, so sieht es wirklich aus.“
Als wir zum Spielplatz gehen, nimmt Andrij meine Hand und strahlt mich an. Ich strahle zurück.
Wenn ein Pinguin verliebt ist, schenkt er dem auserwählten Weibchen einen Stein.
Ich bin kein Pinguin und sammle keine Steine, aber ich habe ein Telefon. Heute Abend werde ich Thorben anrufen.
Jetzt will ich mit meinen Kindern den Tag im Zoo genießen.



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