Von David Holzner

Richie Grün stand vor verschlossenen Türen. Die Bibliothek hatte heute zu. Er fluchte. Das Jahr war erst ein paar Tage alt und schon jetzt hing es ihm zum Hals raus wie der Wohlstandsmief dieser Heuchlerstadt. Aus der Glastür starrte ihm Spiegelbild entgegen. Die blaue IKEA-Umhängetasche voller Schmutzwäsche hing ihm schäbig von der Schulter und ansonsten sah er auch etwas verlottert aus. Er trug eine grüne Jacke, die schon zu viele Winter gesehen hatte, dazu durchgelaufene Sportschuhe, weil ihm die neuen Winterstiefel an der Ferse schmerzten, und komplettiert wurde das Ganze durch abgewetzte Blue Jeans, die nur deswegen nicht in seinem Wäschesack lagen, weil er ja schlecht ohne Hosen aus dem Haus gehen konnte. Richie war das alles gleich. Wenn du so lange Scheiße gefressen hast wie ich, dachte er, verschwendest du keinen Gedanken mehr daran dich adrett zu kleiden. 

Er lief weiter die Straße runter. Die Waschmaschine im Keller funktionierte wieder nicht und dann besuchte er meist den Waschsalon in der Keferloher Straße. 2,80 € für 6 Kilo Wäsche und der Kaffee aus dem Automaten schmeckte wie Spülmittel. Wenigstens konnte er sich etwas die Beine vertreten. Bei diesem Wetter wollte man jedoch keine Sekunde länger las notwendig draußen sein.  Der Himmel lag über München wie eine graue Ausfaltdecke. 

Am Curt-Mezger-Platz bog er nach links. Die abgebrannten Böller der Silvesternacht lagen noch feucht und pappig auf den Gehwegen. Als er die Keferloherstraße überquerte beäugte ihn der Busfahrer an der roten Ampel von oben bis unten. Die Missgunst in seinen Augen war schwer zu übersehen. Neues Jahr, neues Gesinde. Ein weiterer armer Irrer für die kalte Straße. Aber so einfach kriegten sie mich nicht, dachte Richie. Er sah vielleicht gerade nicht danach aus, aber Richie Grün war ein hungriger Journalist kurz vor dem großen Durchbruch. Ja gut, vielleicht machte er gerade eine schlechte Phase durch, die nun schon seit über einem Jahr anhielt, und der Jüngste war er auch nicht mehr. Aber da musst du durch, Grün, sagte er sich. Alles was du brauchst ist eine einzige wirkliche Chance, den dicken Fisch, die große Story, und dann ist es ein Selbstläufer und du ertrinkst in Champagner und Lobeshymnen. Ein kleines bisschen Glück, zur Abwechslung, das war doch nicht zu viel verlangt. 

 

Der Waschsalon hatte offen, aber das hatte er ja immer. Richie befüllte die Maschine, fütterte den Kassenautomaten und setzte sich mit dem Spülmittelkaffee auf eine Sitzbank. Normalerweise verbrachte er die Waschzeit mit dem Beobachten der anderen Gäste und schrieb Ideen in sein Notizheft. An diesem frühen Wintermorgen war allerdings kaum jemand da und sein Notizheft fast voll. Nur ein abgebrannter Alter bückte sich ächzend und stöhnend hinunter, um die Maschine Nr.17 zum Bersten vollzupacken und stieß dabei eine Vielzahl an Flüchen aus. Richie hätte ihm Hilfe angeboten, aber der Alte war die Sorte von Mann die sich nicht helfen ließ, nicht mal wenn er in Flammen stehen würde, da war Richie sicher. 

Der Abgebrannte packte seine schäbige blaue Tasche, die gleiche wie Richie, und humpelte nach kurzem Münzgeklimper am Kassenautomat, raus vor die Tür. Richie ging ihm hinterher. Draußen steckte er sich die rote Gauloises an, die er morgens aus der Packung in Mias Jackentasche gepflückt hatte, und blies den Rauch in die Winterluft, während er dem Alten beim Davonhumpeln zusah. Der Abgebrannte zog einen Radanhänger hinter sich her, aus dem die alte vergilbte Ausgabe eines Lokalblatts ragte. Wahrscheinlich hatte er frühmorgens im Dunkeln seine Runde gedreht, die Briefkästen der Abonnenten abgeklappert, als Nebenverdienst, und war jetzt fertig mit der Arbeit und dem Leben sowieso. Richie sah auf die Uhr an seinem Telefon. Es war kurz nach acht. 

Als er um die Ecke zum Aldi lief, parkte der Alte gerade seinen Wagen an einer Bäckerei. Vielleicht hat er die Zeitung mit meinem Artikel dabei, dachte Richie, und hätte am liebsten im Anhänger darin gekramt. Stattdessen ging er ins Aldi, kaufte ein paar Lebensmittel, und ging danach ins Schreibwarengeschäft gegenüber, um sich ein neues Notizheft zu kaufen und wenn er noch Geld übrighatte, vielleicht eine Packung rote Gauloises für Mia. Die Zeitung würde dort auch aufliegen. 

Drinnen war es gesteckt voll. Seit neuestem gab es in der Stadt kaum noch Postämter, weshalb die Tabaktrafiken und Schreibwarengeschäfte die operativen Geschäfte übernahmen, was endlos lange Schlangen, verdutzte Gesichter und ratlose dreinschauende Zigarettenverkäufer zur Folge hatte. Ein weiteres Beispiel, dachte Richie, wie man ein Land runterwirtschaften kann als wäre es eine sterbende Firma. Tätigkeiten übertragen und sich wundern warum die Qualität sank und dann abschöpfen, abmelken, auspressen, bis nichts mehr geht und irgendwann würden schon die Banken einspringen. Richie kämpfte sich mit seinem schweren Rucksack auf den Schultern durch die Menge, vorbei an den gereizten Gesichtern und steinernen Mienen, bis ganz nach hinten, wo die Zeitungen auslagen. Er schnappte sich die SZ und blätterte durch bis zum Kulturteil. Nichts. Er fand ein paar Rezensionen seines Ressortleiters und die ein oder andere Glosse von den erfahrenen Redakteuren, aber nirgendwo stand der Name Richard Grün. Er hätte am liebsten randaliert, gleich hier zwischen all den Leuten, aber er beruhigte sich. Was solls, dachte er, dann eben nächste Woche. Er legte die Zeitung zurück und holte sich ein neues Notizbuch aus dem Regal. Die werden schon noch sehen, was ich kann, schwor er sich. Die besten Stories liefere ich ihnen und dann werden sie Augen machen die Schnösel von der SZ, oben in ihrem Glaspalast wo die freien Mitarbeiter nur mit Akkreditierung hinkamen. Denen liefere ich Stories ohne Ende, am Zahn der Zeit, investigativ, an der Grenze zum Illegalen. Dann würde auch der Ressortleiter endlich verstehen, dass meine Artikel Gold waren und nicht nur Glitzer. 

Richie wollte gerade zur Kasse als ihn eine ältere Frau anhielt. Sie sprach kaum Deutsch und schreiben konnte sie auch nicht, zumindest nicht auf deutsch, weshalb sie Richie darum bat, Sender und Empfänger auf ihrem Brief zu vermerken. Vielleicht würde das meine neue Berufung sein, dachte er. Leuten, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, beim Senden ihrer Post zu helfen. Der Staat tat das offensichtlich nicht und ließ seine briefeschreibenden Bürger in überfüllten Schreibwarenläden versauern. Vielleicht würde er nicht reich damit, aber für einen Waschgang im Salon einmal pro Woche reichte es allemal. Die Frau bedankte sich überschwänglich als er ihr Umschlag und Kugelschreiber in die Hand drückte.

Als Richie an der Kasse stand, das Notizheft und einmal Gauloises Rot bezahlte, fiel es ihm ein. Eine gute Tat macht sich immer bezahlt. 

„Ich nehm noch ein Rubellos dazu“

„Welches möchten Sie?“, sagte die Kassiererin. 

„Ähm, ich kenn mich damit nicht so aus. Einfach irgendeins.“

„Rot, Gelb oder Grün?“

„Dann Grün“, sagte Richie und gab der Frau seinen letzten 5-Euro-Schein.

„Viel Glück“, sagte sie.

„Mal sehen“

Draußen hatte es zu regnen begonnen. Der feuchte Wind blies ihn fast über die Kreuzung und die grauen Wolken nahmen dem Tag das Licht. Richie hatte einen Rucksack voll Lebensmittel, eine Packung Zigaretten, ein schwarzes Notizheft, ein Rubellos und keinen einzigen Euro in der Brieftasche. Er musste sich wohl weiter bei Mia durchschnorren. Wenigstens kam er mit einer Ladung frischer Wäsche und Zigaretten bei ihr angekrochen. 

Im Waschsalon war Richie fast schon wieder guter Dinge, bis er bemerkte, dass seine Maschine auf halber Strecke ausgefallen war. Er hatte wohl zu wenig Geld eingeworfen. Die Tür ging erst wieder auf, sobald man den Automaten mit weiteren Münzen fütterte. Richie stellte seinen schweren Rucksack auf den staubigen Linoleumboden und setzte sich auf eine Sitzbank. So war es also um ihn bestellt. Er sah sich um und studierte seine Optionen. Der alte Abgebrannte war auch wieder da. Immer noch fluchend packte er seine frisch gewaschenen Kleider in die Tüte und wie Richie ihn so beobachtete, gebückt und gebrechlich, Verwünschungen speiend, mit Hass auf die Welt aber ohne den Kampf aufzugeben, wirkte es als hätte er sein Leben unter Kontrolle. Richie überlegte kurz ob er ihn um Geld bitten sollte aber so tief war er noch nicht gesunken. Stattdessen holte er das Rubellos aus seiner Jackentasche und mit den letzten 5ct die er besaß begann er zu kratzen. Draußen hupte ein Lieferwagen, ein Kind schrie nach seiner Mutter. Der Wind peitschte den Regen gegen die Glasfront und es schien noch dunkler zu werden. Bald würde die Straßenlaternen wieder angehen. Es war Anfang des Jahres und Richie Grün kratzte um sein Leben.

 

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