Von Gerd Henze

Josef Lohrer, Security, stand auf dem Anstecker am Revers seines dunkelblauen Sakkos. Josef rückte den Knoten der Krawatte gerade. Hinter der Uniform trat der Mensch, der sie trug, zurück. Er verrieb die Handcreme, die Fingernägel sauber gefeilt, das Gesicht glatt rasiert. Nur den Bartschatten bekam er nicht weg, da konnte er noch so gründlich mit der Klinge darüber fahren. Er legte den Fusselroller links in die Schublade. Rechts lag das gerahmte Foto mit der Fußballmannschaft. Sein größter Triumph. Es war nach dem Spiel aufgenommen worden. Aufstieg in die Oberliga und er hatte ihn mit seinen beiden Toren besiegelt. Trotzdem fühlte er sich nie als Teil der Mannschaft. Er hing den Fußball an den Nagel und zog um.

 

Josef parkte den dunkelgrünen Mini auf dem Parkplatz, das Verdeck ließ er offen. Drinnen, im Einkaufszentrum, lenkte Juri den elektrischen Wischwagen durch den Hauptgang und hinterließ einen feuchten Film auf den Bodenplatten. Josef marschierte an den Schaufenstern der Läden entlang und überflog aus den Augenwinkeln deren Auslage. Dieselben Sachen wie gestern auch. Vor der Boutique blieb er stehen und schüttelte den Kopf. Schwarze Stiefel mit dicker Sohle, so klobig und schwer, dass man mit ihnen über den Meeresboden spazieren konnte. Das Profil so breit und tief, dass sich die Erde eines ganzen Rübenackers dazwischen festsetzen konnte. Sie verunzierten ein trägerloses, knielanges, weißes Tüllkleid. Dagegen sahen die Springerstiefel im Jagd- und Anglerladen nebenan geradezu elegant aus.
„Was zum Kuckuck?“
In die schmale Wand zwischen den beiden Geschäften hatten sie ein Rechteck, einen halben Meter breit und eineinhalb Meter hoch, geschnitten. Gestern war es nur angezeichnet gewesen. Josef ging weiter zum Pausenraum, ein großes Fragezeichen im Kopf.
„Servus, Sepp!“
Josef grüßte zurück.
„Chunky Boots.“
„Hä?“
„Kann man den Fuß einer Frau mehr verunstalten?“
„Wie bist du denn drauf?“
„Komm mal mit! Ich muss dir was zeigen.“
Sie gingen zur Boutique.
„Weißt du, wofür das gut sein soll?“
„Was?“
„Na, das hier.“ Josef zeichnete mit dem Finger den Schnitt in der Wand nach.
„Sale! 40% auf alles!!!“, las der Kollege. „Solche Plakate hängen hier doch überall herum.“
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich meine den Schnitt hier. Soll da eine Tür für Kinder hin oder was?“
Der Kollege trat näher heran.
„Ich sehe nichts. Du solltest dir eine Frau suchen“, klopfte er ihm auf die Schulter. „Das ist gar nicht gut, wenn ein Mann so lang allein ist, wenn du verstehst …“, grinste er.
Josef wich zurück. „Was weißt du schon, was mir fehlt?“
„Mensch, du siehst gut aus. Die Frauen drehen sich nach dir um. Sie sprechen mich sogar auf dich an.“

 

Am nächsten Morgen. Josef parkte den Mini neben dem Audi der Geschäftsführerin. Sie stieg aus und lächelte ihn an. Bevor sie das Einkaufszentrum betrat, drehte sie sich noch einmal um. Wenn sie es ahnte, wäre sie bestimmt nicht so offenherzig. Vermutlich würde sie ihn sogar feuern.

Er nahm denselben Weg wie gestern. Vor der Boutique blieb er stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Die Verkäuferin schob einen Kleiderständer hinaus. Wo gestern noch der Schlitz in die Wand gefräst war, fand er heute eine Tür aus massivem Holz.
„Gehört das zu einer neuer Marketing-Aktion? Moderne Kunst und Kommerz oder so?“
„Was meinen Sie?“
„Na, die Tür hier.“ Josef trat vor und klopfte gegen das Holz.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, starrte ihn die Verkäuferin mitleidig an.
Sie schüttelte den Kopf und verschwand wieder zwischen Hosen, Röcken und Blusen. Josef folgte ihr in den Laden. Er stöberte uninteressiert durch die Ständer und arbeitete sich nach hinten zu den Dessous durch. Er wartete, bis die Frau im Lager verschwand. Dann nahm er einen BH vom Bügel und hielt ihn gegen das Licht. Er spähte nach links und rechts. Niemand da. Oben in der Ecke eine Kamera. So früh hatte sie das Ding bestimmt noch nicht eingeschaltet. Er knöpfte das Sakko auf.
„Ist noch irgendwas?“, überraschte ihn die Stimme der Verkäuferin.
„Äh, nein, nichts.“ Die Finger zitterten, als er den Bügel zurück zu den anderen hing.

 

Am späten Abend war nur noch die Notbeleuchtung eingeschaltet. Josefs Absätze hallten einsam durch den Gang. Ein paar Meter noch, dann war er bei der Boutique. Er strich über das Blatt der kleinen Tür. Das Holz vibrierte sanft unter seiner Hand und schickte seine Schwingungen durch Josefs Körper. So deutlich hatte er es nie zuvor gespürt. Viel zu lange schon hatte er es zurückgedrängt, doch nun schloss er die Finger um die Klinke und drückte sie. Federleicht schwang die Tür in den Angeln auf. Eine Stiege führte nach oben. Sie war beleuchtet, doch die Schwelle kappte ihr Licht und trennte es wie einen seidigen Vorhang vom Gang. Josef beugte sich vornüber und neigte den Kopf. Er tastete sich vor und streckte die Hand aus. Sie schlüpfte in die Helligkeit wie in einen warmen Handschuh, der ihn mit einem zärtlichen Händedruck willkommen hieß. Josef bückte sich und zwängte sich durch die enge Öffnung. Er trat auf die unterste Stufe und die Tür klackte dumpf hinter ihm ins Schloss. Stufe für Stufe stieg er hinauf. Er fühlte sich leicht, beschwingt … glücklich. Bilder von kleinen Türen schossen ihm durch den Kopf … neben der Mannschaftskabine, in der Küche bei den Eltern, als er wegzog, und in Sabines Wohnung, als er sie verließ. Keine von ihnen hatte er geöffnet. Nun war er endlich hindurch gegangen.

 

Josef betrachtete sich im Spiegel. Der Bartschatten war nicht mehr zu sehen, die Augenbrauen auf Linie gezupft, an den Füßen unter der Schlaghose elegante Stiefeletten mit Schnürung und in der Hand der BH von neulich.
„Warten Sie! In der Umkleidekabine ist noch eine andere …“ Die Verkäuferin musterte ihn wie einen Sträfling bei der Kleiderausgabe. „… da ist noch eine Frau.“
Josef nickte und lächelte. Sie bedauerte das Unbehagen der Verkäuferin gegenüber einer neuen, bunteren Welt.

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