Von Ingo Pietsch

Ich hatte das Haus meines Onkels geerbt.
Einen langgezogenen Bungalow inmitten einer Neubausiedlung. Als es vor dreißig Jahren fertiggestellt worden war, hatte es noch am Stadtrand gestanden, denn mein Onkel liebte die Ruhe.
Um das Haus und das Grundstück führte jetzt eine 2,50 Meter hohe Mauer herum. Die Einfahrt war mit einem schweren Rolltor verschlossen.
Warum mein Onkel so eingeigelt gelebt hatte, wusste ich nicht.
Vor ein paar Jahren war ich mit meinen Eltern ein oder zwei Mal zu Besuch hier gewesen.
Da hatte es die Mauer noch nicht gegeben. Der Garten war schön gepflegt und überall summten und brummten Insekten.
Jetzt war alles verwildert und zugewachsen. Man konnte das Haus als solches kaum noch erkennen.
Eigentlich war mein Onkel mir als netter und zuvorkommender Mensch in Erinnerung geblieben.
Doch hatte er in letzter Zeit den Kontakt zu seinen Verwandten komplett abgebrochen. Den Grund dafür konnte mir leider niemand nennen. Er verließ bis kurz vor seinem Tod sein Haus gar nicht mehr und ließ sich alles nur noch bis vor die Haustür beliefern.
Tatsächlich war er sehr vermögend gewesen. Er hatte einige Bestseller unter einem Pseudonym geschrieben, die ihm einiges an Geld eingebracht hatten.
Vielleicht hatte er eine Schaffenskrise gehabt, da ihm die nötige Ruhe fehlte? Schließlich hatte er seit einer Ewigkeit nichts mehr veröffentlicht.
Ich erinnerte mich auch daran, dass in seinem Haus an jeder freien Wand Regale voll mit Büchern gestanden hatten.
Ich dagegen war ein Lesemuffel. Natürlich überflog ich den Newsfeed auf meinem Handy, aber was mehr als fünf Minuten Lesezeit erforderte, empfand ich als Zeitverschwendung.
Jetzt stand ich vor meinem Erbe und malte mir aus, wieviel Arbeit ich hier reinstecken müsste.
Ich schob die Gedanken beiseite und öffnete das Hochsicherheitsschloss.
Mir kam abgestandene Luft entgegen und ich musste das Licht einschalten, weil alle Rollläden heruntergelassen waren.
Die Tür ging wieder zu und verschloss sich von selbst. Merkwürdig.
Ich riss erst einmal alle Fenster auf, um Licht und Sauerstoff hereinzulassen.
Staubflusen wirbelten auf, aber ein leicht unangenehmer Geruch ließ sich nicht vertreiben.
Mein Onkel war vorne an der Straße an einem Herzinfarkt gestorben, als er die Mülltonnen auf den Gehweg gerollt hatte.
Deswegen war im Haus alles unberührt geblieben. Der Notar hatte nur das Testament verlesen und sich nicht weiter um irgendwelche Angelegenheiten gekümmert. Alles, einschließlich der Beerdigung war bezahlt gewesen und die gelegentlichen Besuche bei meinem Onkel hatten ihm immer ein leichtes Unbehagen beschert. Er war auch der Einzige, der mit ihm noch persönlichen Kontakt hatte. Er meinte auch, dass mein Onkel sehr verwirrt schien. Außerdem hatte an einer seine Hände ein kleiner Finger gefehlt. Mein Onkel hatte ihm erklärt, dass es beim Holzhacken passiert wäre.
Ich strich über einen hochwertigen Beistelltisch und meine Finger hinterließen im Staub eine dicke Spur.
Alles war mit dunklem, rötlichem Holz vertäfelt. Das würde ich wahrscheinlich alles rausreißen, damit es nicht so düster wirkte.
Die Regale aus meiner Kindheit waren alle noch da. Aber jetzt waren sie leer. Jedes einzelne.
Hatte mein Onkel etwa alle Bücher in seinem Wahn verfeuert?
Unter den Standardwerken der Literatur befanden sich auch viele Erstausgaben und Folianten, hatte mir mein Onkel damals erzählt. Und dass ich die Finger davon lassen sollte.
Ich ging durch die restlichen Räume und öffnete auch dort die Fenster.
Im Haus war nichts Außergewöhnliches zu entdecken, das darauf hindeutete, dass er  verrückt geworden sind könnte.
Alles war aufgeräumt und gepflegt.
Mit einem Mal fiel mir ein, dass ich einen Raum vermisste. Der musste ziemlich in der Mitte des Hauses gewesen sein. Ein Leseraum. Zwar ohne Fenster, aber mit dickem Teppich ausgestattet. Regale bis zur Decke an allen Wänden. Zwei schwere Ohrensesseln, mehrere Tischchen und Leselampen.
Das Zimmer war sehr beindruckend, mit seinem diffusen Licht, dass trotzdem alles erhellte. Hier waren auch die teuren Bücher ausgestellt gewesen.
Vielleicht hatte mein Onkel ja umgebaut und Wände herausgerissen.
Ich durchlief noch einmal alle Räume und stellte fest, dass es tatsächlich noch ein geheimes Zimmer geben müsste.
Ich klopfte die Wände im Flur ab und hinter ein paar Paneelen zwischen zwei Regalen klang es hohler. An der Wand hing ein Bild, eingerahmt von zwei Kerzenleuchtern.
Ich schaute hinter das Bild und zog dann an beiden Leuchtern. Einer klappte nach vorne, es war Klicken zu vernehmen und die Paneele schwangen lautlos zur Seite.
Ich zog die Geheimtür auf und mir wehte so trockene Luft entgegen, dass ich husten musste.
Drinnen war es stockdunkel, sodass ich nach einem Lichtschalter tastete.
Die alten Glühbirnen der Tischlampen flackerten auf und gaben mehr Schatten als Helligkeit ab.
Auch hier waren alle Regale leer. Auf dem Boden lagen noch ein paar abgewetzte Buchdeckel, die mit ihren Leinenfetzen abgerissen schienen.
Ich zückte mein Smartphone und leuchte ein wenig umher. In einem Ohrensessel saß eine Plüschfigur. Bei näherem Hinsehen war es aber doch eher Fell. Die Größe irritierte mich. Ich ging näher heran und wich gleich wieder zurück: Es war ein ausgestopftes Tier mit geschlossenen Augen. Ich hatte keine Ahnung, was es war. Am ehesten erinnerte es mich an eine Mischung aus Känguru und Ratte.
Auf jeden Fall war es gruselig. Das Tier hielt ein halbgefressenes Buch in der Hand und wirkte, als wolle es jeden Moment zum Leben erwachen.
Rückwärts verließ ich den Raum wieder und schloss schleunigst die Tür.
Mit gedankenvollem Kopf und schnellen Schritten durchlief ich das Haus und landete schließlich wieder im Schlafzimmer. Ich setzte mich auf das Bett und dachte nach. Mein Onkel musste doch irgendwo was aufgeschrieben haben.
Ich zog die Nachttischschublade auf und entdeckte tatsächlich ein dünnes Tagebuch mit neueren Eintragungen.
Ich überflog es: „Während einer Schreibblockade ist es zu mir gekommen. War damals so groß wie eine Maus. Hat Bücher gefressen und hat mir den Inhalt erzählt. Fand ich damals lustig und animierte mich, weiter zu machen. Es konnte sich immer nur ein Buch merken. Plötzlich zwei und drei und immer mehr. Es wuchs dabei und wurde immer intelligenter. Hat meine Notizen gefressen. Es weiß alles über mich. Ist gierig geworden. Habe versucht es auszusetzen, kehrte aber wieder zu mir zurück. Es sagte mir, wenn ich dies noch einmal versuche, würde es meiner Familie etwas antun. Oder meinen Freunden. Musste mich abkapseln. Konnte niemanden um Hilfe bitten. Es meinte, es wäre nicht das einzige seiner Art und sie würden mich verfolgen, wenn ich etwas tun würde, was es gefährdet.
Ich muss schreiben, was es mir diktiert. Die Bücher sind alle ein Erfolg.
Ich halte diesen Druck langsam nicht mehr aus. Es hat die Kontrolle über mein Leben übernommen. Muss immer mehr Bücher besorgen, weiß nicht was passiert, wenn ich dem nicht nachkomme.“
Mit fiel das Buch aus der Hand. Ich sollte schleunigst von hier verschwinden. Wahrscheinlich war dieser Bücherfresser tot. Aber was, wenn nicht?
Ich sprang auf.
Ich musste einfach raus hier.
Mit schnellen Schritten kam ich wieder zur Haustür. Wer würde mir diese Geschichte glauben?
Etwas polterte im Haus. Ich erschrak, die Schlüssel fielen mir aus der Hand. Ich hob sie wieder auf und versuchte mit zitternden Fingern das Schloss zu öffnen. Der Schlüssel passte, ließ sich aber nicht mehr drehen.
Ich hörte ein Kratzen an der Wand mit den Paneelen.
„Ich wusste, du würdest zurückkehren! Aber irgendwie riechst du anders“, kam eine zischende und kratzige Stimme von der anderen Seite.
Entsetzt und vor Angst starr blickte ich auf die geheime Tür, die sich öffnete.
Langsam schritt die Kreatur, die mich um drei Köpfe überragte, auf mich zu und legte eine Tatze auf meine Schulter.
„Ich denke, wir werden sicherlich gute Freunde! Aber jetzt habe ich Hunger!“
Ein widerlicher Gestank weht mir aus dem Maul des Wesens entgegen.
Starr vor Angst blickte ich in die dunklen Augen der Kreatur: „Ich habe aber keine Bücher dabei.“
Der Bücherfresser musterte mich von oben bis unten, warf dann seinen Kopf in den Nacken und gab ein Geräusch von sich, dass entfernt an ein Lachen erinnerte: „Da wird sich sicherlich was finden und dann sehen wir weiter!“

 

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