Von Karl Kieser

 

Gleich hinterm Deich duckte sich das Häuschen zwischen Bäume und Sträucher eines Gartens, der auch auf den zweiten Blick verwildert wirkte. Tante Frieda lebte hier abgeschieden und allein, denn der letzte Krieg hatte ihr den Mann und den Sohn genommen.
Zum Überleben wurde sie von ihren Geschwistern unterstützt. Damals waren das noch viele. Als Gegenleistung konnte man den eigenen Nachwuchs für ein paar Tage in ihre Obhut abladen. Sie galt als „etwas eigen“ aber fürsorglich.

Ich war vielleicht acht und hatte von alledem keine Ahnung. Das niedrige Haus mit dem moosbewachsenen Reetdach gefiel mir. Es roch etwas seltsam, aber das störte mich nicht. Für mich war alles abenteuerlich neu.
Zuerst wurde der prallvolle Korb mit Würsten geräucherten Schinken und Konserven, den meine Mutter mitgebracht hatte, in der Speisekammer verstaut. Hinter einer niedrigen Tür in der Küche war dieser fensterlose Raum noch ein paar Stufen tiefer in den Boden gegraben. Er hatte einen gestampften Boden und war angenehm kühl. Im Haus gab es kein fließendes Wasser, selbst in der kleinen Küche nicht. Das musste man sich in der integrierten Waschküche mit einer Schwengelpumpe erarbeiten. Mein Zimmer, winzig, direkt unter dem Dach, war nur über eine steile Stiege zu erreichen, die man schon fast eine Leiter nennen konnte.
Ein Zimmer für mich allein, weit weg von den strengen Eltern. Ich war begeistert. Meine Mutter machte ein bedenkliches Gesicht. Ich ahnte, dass sie mit sich rang, ob es nicht besser wäre, mich wieder mit nach Hause zu nehmen. Daher kehrte ich eine übertriebene Begeisterung heraus und drängte auf ihre Abreise.

Sobald ich mit Tante Frieda allein war, lernte ich noch die Terrasse kennen, eine rissige Betonplatte, an der selbst ich nichts kaputtmachen konnte. Ein rundes Tischchen und ein wackeliger Stuhl, dem nurmehr die Tante traute, war hier das gesamte Inventar.
Von der Pergola waren nur noch drei der ehemals vier Pfosten übrig und auch die standen nur noch, weil das ganze Gebilde derart mit Efeu und wildem Wein umschlungen war, dass die Konstruktion die Festigkeit eines flexiblen Betonklotzes hatte.
Von hier drangen wir in den Garten vor. Die Wildnis war immer wieder von einzelnen Beeten unterbrochen, an denen es die unterschiedlichsten Dinge für die Küche zu ernten gab. Der ganze Garten war von einer brüchigen Mauer umgeben, die an mehreren Stellen zerklüftete Lücken aufwies. Ein herrlicher Abenteuerspielplatz.

Die Tante ließ mich ein paar Möhren und anderes Wurzelgemüse ausgraben. Zusammen mit einigen frischen Kräutern würde das ein leckerer Eintopf für uns werden. Ich durfte alles in der Waschküche abwaschen und konnte mich dabei nach Herzenslust austoben. Der fugenlose Steinboden war geneigt und endete in einer Rinne, die kompromisslos alles Wasser aufnahm und verschwinden ließ. Zuhause hätte meine Mutter mir die Ohren langezogen, für das, was ich hier veranstaltete. Zum Schluss war das Gemüse blitzblank und nur ein dünner Film Feuchtigkeit auf dem Boden zeugte von der Wasserschlacht. Ich war hingerissen von dieser praktischen Einrichtung. Ich selbst war auch ziemlich nass geworden, aber es war Sommer, Hemd und Hose würden schnell wieder trocknen.

Während die Tante sich an die Zubereitung unseres Abendessens machte, erkundete ich die restlichen Zimmer des Hauses. Das eine war das Schlafzimmer der Tante, das andere war verschlossen. Durchs Schlüsselloch war nicht viel zu erkennen, aber mir war, als ob ein kalter Hauch mir aufs Auge blasen würde. Da war auch etwas konturenlos Weißes. Lebten etwa Geister in diesem Zimmer? Warum sonst konnte es versperrt sein? Was war so geheim, dass ich es nicht sehen durfte? Den ersten Impuls, zur Tante zu laufen und sie zu fragen, hatte ich schnell unter Kontrolle. Wenn sie etwas Schlimmes vor mir verheimlichen wollte, dann musste ich strategisch vorgehen.
Spontan nahm meine Fantasie Fahrt auf. Warum hatte mir niemand erzählt von einem verschlossenen Zimmer? Das Haus war klein. Warum sollte die Tante auf ein ganzes Zimmer verzichten? Das Gefühl, das in mir aufstieg, kannte ich. Es überkam mich immer, wenn ich etwas aus unserem Keller holen musste. Wenn ich dem nicht eiskalte Gelassenheit entgegensetzte, würde mich die Panik überrollen und in einen kreischenden Feigling verwandeln. Ich musste sofort etwas Rationales unternehmen.

Das Zimmer war am Ende des Hauses. Ein Eckzimmer. Es würde Fenster haben, durch die man mehr vom Inneren sehen konnte als durchs Schlüsselloch.
Das Haus hatte jedoch nur im Eingangsbereich bei der Waschküche einen freien Zugang. Der Rest war zugewuchert.
Hier draußen, im hellen Sonnenlicht, gewann der Forscherdrang über meine Bangigkeit. Durch Gestrüpp und junge Bäume musste ich mich hindurchwinden, um an die fraglichen Fenster zu gelangen. Es waren zwei. Je eines über Eck, die dem Raum normalerweise viel Licht gegeben hätten. Durch die dschungelartige Wildnis war es aber sehr dämmerig. Außerdem behinderten geraffte Vorhänge meine Sicht in den Raum.
Der Anblick einer normalen Eirichtung hätte meine Gemütsverfassung wieder in Ordnung bringen können. Was ich aber nun sah, bewirkte das Gegenteil. Die wuchtigen Möbel aus dunklem Holz sahen ganz und gar nicht so aus, wie ich das erwartet hatte. Der Schrank neigte sich so weit von der Wand vor, dass der Inhalt auf den Boden stürzen musst, sobald eine seiner Türen geöffnet würde. Auch der Tisch stand so schief, als ob die Beine ungleich lang wären. Mit dem Ohrensessel, der mit einem weißen Laken abgedeckt war, stimmte auch etwas nicht. Und dann bewegte sich das Laken, ich hatte es genau gesehen.
Schlagartig überflutete mich die altbekannte Panik. Ich musste weg hier. Raus aus dieser dämmrigen Enge.

Ich kam erst wieder zu mir, als ich im milden Abendlicht das Dickicht um das Haus hinter mir hatte. Gesicht, Hände und Knie zerschunden.
Es war mir also wieder passiert. Dabei hatte ich mir so geschworen, das nicht mehr zuzulassen. Verdammt! Damit musste endlich Schluss sein. Ich schämte mich.

In der Waschküche konnte ich die Spuren der Verwüstung an meiner Kleidung und an allen unbedeckten Hautstellen leidlich kaschieren und dann rief mich die Tante zum Abendessen.

„Du lieber Gott, Junge, was ist denn mit dir passiert?“ Tante Frieda war entsetzt. „Kann man dich denn keine fünf Minuten allein lassen? Was hast du angestellt?“

„Ach, das ist nichts. Bin nur beim Spielen in ein dorniges Gestrüpp gefallen.“ Ich versuchte, die Sache als Bagatelle abzutun, aber die Tante sah mich nun sehr aufmerksam an.
„Deine Mutter wird mir den Kopf abreißen. Nach dem Essen ziehst du das Hemd aus, damit ich den Riss nähen kann.“

Die Sache wurde mir zunehmend peinlich. Ich hatte das Gefühl, sie würde weiter bohren und genau wissen wollen, was passiert war. Ich musste sie schnell auf andere Gedanken bringen. Mir fiel nichts Besseres ein, als ausgerechnet das verschlossene Zimmer ins Gespräch zu bringen. „Warum ist das Zimmer am Ende des Flurs abgeschlossen?“
Ich merkte es selbst. Das war kein eleganter Übergang und beiläufig war die Frage erst recht nicht. Die Tante musterte mich nun eingehend. Mir schien es minutenlang zu dauern. Dann sagte sie milde: „Du weißt doch was eine gute Stube ist?“
Ich fühlte mich so in die Enge gedrängt, dass ich zum Angriff überging.
„Ja sicher, aber Mama sagt, so einen Quatsch gibt es bei uns nicht. Sie sagt: Wir haben sowieso zu wenig Platz. Und dann ein ganzes Zimmer mitsamt Möbeln nur für besondere Tage freizugeben, kommt nicht in Frage.“

Noch während mir das aus dem Mund sprudelte, merkte ich, dass ich bei Tante Frieda womöglich auch an eine verschlossene Tür geklopft hatte. Damals verstand ich es nicht. Im Nachhinein glaube ich, hatte sie in diesem Zimmer auch ihre Erinnerungen an ihre Gefallenen wie in einen Altarraum vor fremden Blicken wegschloss.
Vielleicht wollte sie auch verhindern, dass ich mit meiner unangebrachten Neugier ihren Seelenfrieden störte. Ihr Ausdruck hatte sich jedenfalls geändert, als sie nun mit Grabesstimme erklärte: „Diese gute Stube ist von ganz besonderer Art. Sie kann nicht geöffnet werden. Zwei Geister leben darin. Sie bewachen den Schlüssel. Sie würden jeden bestrafen, der versuchen sollte, die Tür zu öffnen.“

Gegen meinen Willen war ich beeindruckt. Schließlich hatte ich mir geschworen, nicht mehr in grundlose Panik zu verfallen. Vorläufig wendete ich eine neue Taktik an. Ich ging der Gefahr einfach aus dem Wege. Dem Ende des Flures bin ich künftig ferngeblieben.

Jahre später – Tante Frieda war gestorben – gehörte ich zu der Einsatztruppe, die das Häuschen leerräumen sollte. Ein Schlüssel für das Eckzimmer ließ sich nicht finden, aber das einfache Türschloss bot keinen großen Widerstand.
Nach all den Jahren hatte ich  immer noch ein seltsames Gefühl im Magen, als ich erstmals die verbotene Tür öffnete. Endlich sah ich den Grund für das Bild, das mich als Junge so erschreckt hatte und der wohl auch der reale Anlass dafür war, diese Tür geschlossen zu halten.

Die „gute Stube“ war der einzige Raum mit einem hölzernen Dielenboden und der war total verrottet. Er hatte an etlichen Stellen die Last der schweren Möbel nicht mehr tragen können. Der Schrank stand zwar immer noch, aber Teile seines Inhaltes waren schon herausgestürzt. Unter den morschen Holzbalken war die blanke Erde zu sehen. Und auf dem Sitz des Ohrensessels, dessen Leinenabdeckung schon sehr zerfressen aussah, ein altes Mäusenest..