Von Beate Fischer

 

Ich habe es von Anfang an gewusst: Dieser Mann passt nicht in unser Haus. Kein Wunder, dass er nach sechs Monaten seine Koffer packt und hoffentlich auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Schon der Name: Gulfnenrets. Was soll denn das bedeuten? Ist das lettisch oder was? Bei uns heißt man doch Maier oder Müller oder Schmid. Oder Krämer, wie ich.

 

Jedenfalls habe ich schon am Tag seines Einzugs gemerkt, dass mit dem was nicht stimmt. Der hat tatsächlich an jeder Wohnungstür im ganzen Haus geläutet und sich vorgestellt. Und dann wollte er uns ganz im Ernst zu einem Einzugsumtrunk in seine Wohnung einladen.

„Wo ich herkomme, sind Nachbarn gute Freunde“, hat er dabei gesagt.

Das stell sich einer vor! Freunde! Ich bin froh, wenn mich niemand stört. Schließlich habe ich genug mit mir zu tun. Außerdem hätte ich ihm ja einen Gegenbesuch anbieten müssen. Nein, nein, mir kommt kein Fremder in mein Wohnzimmer.

Auch die anderen haben sich zurückgehalten. Nur die Krüger aus dem dritten Stock ist zu ihm gegangen. Das war ja klar. Alleinerziehend mit zwei kleinen Gören, die hält Ausschau nach einem Versorger.

Und ich muss zugeben, dass der Herr Gulfnenrets gar nicht schlecht ausschaut. Für einen Auswärtigen. Die Haare sind für meinen Geschmack ein bisschen zu borstig und viel zu dunkel, aber er ist ein stattlicher Mann und seine Augen funkeln wie ein blankgeputzter Abendhimmel.

 

Er war plötzlich da. Freitags haben noch die Handwerker in der leeren Wohnung im fünften Stock gehämmert, gebohrt und geschliffen. Der Schmutz hat das Treppenhaus so vernebelt, dass ich beim Fegen fast eine Staublunge bekommen hätte. Dreimal musste ich an diesem Tag die Stufen wischen, sonst hätte ich den ganzen Dreck in meine Wohnung geschleppt. Ich war nahe dran, bei der Hausverwaltung anzurufen. Aber dann habe ich Gnade vor Recht walten lassen. Schließlich war ich den ganzen Nachmittag außer Haus. Freitags ist mein Friedhofstag. Jäten, gießen, Grabstein polieren. Und das nicht nur bei meinem Mann. Auch meine beiden Schwestern haben wir schon zur letzten Ruhe gebettet. Das ist wieder typisch für meine Verwandtschaft. Halsen mir die ganze Arbeit auf.

Jedenfalls spazierte am Samstag der neue Mieter durchs Haus und hängte ein Schild mit seinem Namen an den Briefkasten.

„Gulfnenrets, sehr angenehm, Sie kennenzulernen“, begrüßte er mich, als ich ihn im Keller traf, wo ich fremde Schritte gehört hatte. „Ich wohne seit heute ganz oben.“

Dabei legte er seine linke Hand flach auf seinen Hosenbund und verbeugte sich leicht. So etwas hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Höchstens im Fernsehen. Verdutzt knickste ich und lupfte dabei leicht die Schöße meiner Schürze. Im nächsten Moment ärgerte ich mich darüber und knurrte: „Krämer, Erdgeschoss. Die Haustür muss nach zehn Uhr abgeschlossen werden und auf den Treppenabsätzen dürfen keine Gegenstände abgestellt sein. Außerdem ist Lärm zwischen ein und drei Uhr nachmittags und zwischen zehn Uhr am Abend und sieben Uhr früh nicht erlaubt. Die Hausordnung hängt am Schwarzen Brett.“

Dann stapfte ich nach oben, ohne ihn weiter zu beachten. Das ist bei uns so üblich. Außer einem kurzen Nicken, wenn ich jemanden treffe, pflege ich keine Kontakte im Haus.

 

Die ersten Wochen hörte und sah man Herrn Gulfnenrets kaum. Er war wie ein Geist, schien laut- und schwerelos die Treppen hinauf und hinab zu schweben. Nur ab und zu hörte ich ein aufgeregtes Piepsen, wie Morsezeichen, oder ein sanftes Rauschen, wenn ich ganz dicht vor seiner Wohnungstür stand.

 

Dann begannen die seltsamen Vorfälle.

An einem Dienstagmorgen Mitte Februar, als ich gerade dabei war, den Gehsteig von Schneeresten zu befreien, kam Herr Gulfnenrets die Straße entlang. Er hielt ein goldbraunes Huhn im Arm, dessen Körper von einem Wollschal bedeckt war.

„Haustiere sind nicht erlaubt“, wies ich ihn zurecht.

„Wo sehen Sie denn hier ein Haustier?“, fragte er mich freundlich lächelnd. „Das hier“, er zeigte auf das Huhn, „das ist eine liebe Kollegin von mir, die sich eine seltene Krankheit zugezogen hat. Wo ich herkomme, hat jeder ein besonderes Talent. Meines ist das Heilen.“

„Ein Arzt“, fuhr es mir durch den Kopf. Das hätte ich nicht gedacht und kurz war ich versucht, ihm den Ausschlag an meinem linken Unterarm zu zeigen, der immer so unangenehm nässte. Doch dann rief ich mich zur Ordnung. „Papperlapapp, ich bin doch keine Henne,“ sagte ich zu mir und beugte mich tief über den Eimer mit Streusalz. Als ich mich wieder aufrichtete, fiel gerade die Eingangstür hinter Herrn Gulfnenrets ins Schloss. Natürlich musste ich die Angelegenheit der Hausverwaltung melden.

 

Und dann die Sache mit dem Fest.

Im März hing am schwarzen Brett plötzlich die Einladung zu einem Hausfest, das Herr Gulfnenrets veranstalten wollte. „Verkleidung erwünscht, je verrückter, desto besser“, stand darauf. Und: „Für das leibliche Wohl ist bestens gesorgt.“

Das konnte ich beim besten Willen nicht dulden. Ein Fest in der Fastenzeit, wo kommen wir denn da hin?

Ich entfernte den Zettel. Immer wieder. Doch er schien fortwährend nachzuwachsen. Kaum nahm ich ihn weg, war im Handumdrehen ein neuer da. Zuerst ganz klein, nur eine Notiz, dann bald groß wie ein Plakat.

In den folgenden Tagen wurde es im Treppenhaus lebendig. Ständig hörte ich ein Trappeln und Tuscheln. Ich konnte einzelne Stimmen erkennen: Die Krüger, die Schulzes aus dem ersten Stock, die alte Frau Merin aus dem zweiten und immer auch Herrn Gulfnenrets. Sie schienen sich fortwährend zu unterhalten, ja sogar zu amüsieren und wurden dabei immer lauter. Ich setzte mich hin und schrieb nun doch einen Brief an die Hausverwaltung.

Am 25. März, einem Samstag, war es dann so weit. Herr Gulfnenrets lief mit blütenweiß geschminktem Gesicht, einem Mund wie ein Wassermelonenschnitz, einer orange glühenden Nase und nach allen Seiten abstehenden Blaubeerhaaren durch das Haus.

„Party“, rief er wieder und wieder und alle schienen den Verstand verloren zu haben. Sie folgten ihm wie einem Rattenfänger in den fünften Stock, von wo ich dumpfe Bässe, lautes Kreischen und unbändiges Gelächter vernahm. Können sich die Leute eigentlich nicht mehr benehmen? Als die nahe Kirchturmuhr zehn schlug, rief ich den Hausverwalter an. Eine halbe Stunde später war Ruhe.

 

Doch die Atmosphäre hat sich seitdem verändert. Die Leute grüßen sich freundlich, sitzen zusammen hinter dem Haus und grillen gemeinsam. Und sie geben nicht auf, mich dazu einzuladen.

Neulich fragte mich die Krüger, ob ich ihr nicht zwei Eier leihen könnte. Dafür würde ich dann auch ein Stück von ihrem fertigen Kuchen abbekommen. Wie kommt sie nur auf die Idee? Die Eier habe ich ihr natürlich gegeben, aber was soll ich mit ihrem Kuchen?

Herr Wurster aus dem vierten Stock hat mir neulich angeboten, meine Tasche zu tragen. Ja wo sind wir denn? Ich gehöre noch lange nicht zum alten Eisen und werde meine Angelegenheiten doch wohl selbst erledigen können. Aufdringlich sind sie alle, ich kann es nicht anders nennen. Sagen, sie sind jetzt eine Gemeinschaft und kümmern sich umeinander, aber ich weiß schon, worauf das hinausläuft. Am Ende kümmere ich mich um alle und alles.

 

Was ist denn das für ein Lärm da draußen? Singt da etwa jemand? Und wer klingelt jetzt schon wieder an meiner Tür?

„Guten Tag, verehrte Frau Krämer.“ Herr Gulfnenrets steht auf meinem Schuhabstreifer und streckt mir einen Strauß Sterndolden entgegen.

„Ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Meine Zeit hier ist abgelaufen, ich muss zurück nach Hause.“

Automatisch greife ich nach den Blumen und vergrabe meine Nase darin. Ich spüre wie sich meine Wangen erhitzen.

„Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt und dass das Haus so sauber und ordentlich ist, haben wir nur Ihnen zu verdanken. Ihre Mitbewohner schätzen Ihre Unterstützung sehr. Wir alle können viel von Ihnen lernen. Ich werde Sie in meinem Bericht lobend erwähnen.“

Er hebt seine Hand zum Gruß und ist im nächsten Augenblick verschwunden.

Ich bin verwirrt, taumle zum Fenster und schaue hinaus. Herr Gulfnenrets steigt in eine staubgraue Kugel und hebt ab. Meine Mitbewohner stehen vor dem Haus und stimmen noch ein Abschiedsständchen an. Meine Finger winken ihm gegen meinen Willen nach, bis er zwischen den Wolken verschwunden ist.

Es klopft. Mein Mund lächelt. Meine Füße gehen Richtung Tür. Ich folge ihnen zögernd.

 

 

Version 2