Von Sabine Esser
Leuchtend bunte Flämmchen umschweben mich, blähen sich auf wie schillernde Seifenblasen, zerplatzen aber nicht. Sie treiben einfach im OP herum. Nur das andauernde, schrille Piepen stört.
Endlich fühle ich mich wieder unbeschwert und jung. Tief unter mir sehe ich grün gekleidete Menschen, manchmal verschwommen wie durch Nebel, manchmal überscharf. Ihre Stimmen kann ich trotz des quälenden Tones gut hören.
Ich muss eine Entscheidung treffen. Bleiben oder nicht? Das ist einfach. In die Helligkeit, da will ich hin. Magisch zieht sie mich an, saugt mich auf. Sanft gleite ich durch den Tunnel, immer weiter dem Licht entgegen. Es gibt kein oben und unten, kein rechts und kein links. Je näher ich dem Zentrum komme, desto strahlender wird es. Ich habe keine Angst, im Gegenteil. Je weiter ich treibe, desto leichter wird mir.
Nicht einmal die angedrohte, brennende Hitze verspüre ich. Kein wütendes Fegefeuer! Alles Überflüssige löst sich sanft auf, wird von mir fortgetrieben und verglüht. Ich bin ich und trotzdem anders. Kein schwerer, schmerzender Körper mehr.
Ich bin eine Idee! Eine helle, zart-opalene, federleichte Idee. Wie wunderschön sich das anfühlt. So frei! So unendlich frei!
Ziel- und zeitlos treibe ich in der grenzenlosen Dunkelheit, um mich herum glitzern und blinken Abermillionen große und kleine Lichtfunken. Wunderbar leuchtende Farbnebel wirbeln umeinander, lösen sich auf, entstehen neu. Sterne werden in diesem Schimmern geboren. Sphärisches Summen streift mich sacht, verweht, kehrt zurück. Mein Gleiten ist ein ewiger Tanz in diesem großen Atmen. Ich bin nichts und alles, reines Sein. Winzig und groß. Seit Äonen.
Denn wir sind Eins und gleichzeitig unendlich Viele. Wir kennen uns zutiefst und auch gar nicht. Wir verändern uns ständig – wie die Nebel, denen wir entstammen. Wir zersplittern und verschmelzen, nehmen auf und geben ab. Wir sind jeder Beginn und jedes Ende.
Ein gleißender Lichtblitz durchfährt mich und stört meinen Tanz. Ich werde gerufen, soll von uns berichten.
Die letzte Materialisation war blutig und schmerzhaft. Dieses Mal jedoch gleite ich wie ein Delfin durch das Zeitmeer, springe hoch und weit, verbinde die Elemente. Werde zu reiner Konzentration und ziehe einen langen Schweif aus sprühenden Photonen hinter mir her.
Die jubilierenden Morgenvögel halten kurz inne und singen weiter. Sie kennen die meinigen.
Ein Betrunkener, der vor der Tür eines Ladengeschäfts nächtigt, scharrt mit den Füßen, als er mich spürt.
Menschen hetzen zur Arbeit. Anrempeln können sie mich nicht. Und selbst wenn, sie nähmen mich nicht wahr. Sie gucken zur Erde oder auf kleine Bildschirme, sind ganz auf sich fixiert. Und die, die von der Arbeit kommen, sind betäubt vom täglichen Einerlei. Wollen nur noch schlafen. Nicht träumen.
Eine junge Mutter versucht, ihren Kinderwagen eine Treppe hinunter zu schleppen. Der Säugling schreit. Niemand hilft ihr, und ich kann es nicht.
„Eieiei dideldei.“ Das Kind lacht mich an und streckt mir fröhlich die Ärmchen entgegen. In dem Alter sind sie uns noch ganz nah.
„Was kläffst du denn, du Dummi? Da ist doch niemand!“, schimpft eine alte Frau mit ihrem Hund. „Na komm‘, stell‘ dich nicht so an! Mach‘ Pipi.“ Sie zerrt ihn weg von mir. Dabei wollte er mich doch nur begrüßen.
Da! Ich werde wahrgenommen und lautstark willkommen geheißen. Aufgeregt plappern alte Menschen durcheinander. Viele Namen werden mir gegeben. Es ist für unsereins nicht schwer, für Sekunden eine Spiegelung zu sein. Eine Erinnerung, eine Hoffnung. Das Lächeln auf den verwitterten Gesichtern tut mir gut. Ich kann ihnen Ruhe schenken, eine Ahnung dessen, was sie schon immer waren und wieder sein werden. Eine Idee, eine Möglichkeit.
„Was haben die denn? Die Medikamentenausgabe ist doch schon durch“, wundert sich eine Pflegerin.
Ich brauche eine Pause. Die Bäume im Park grüßen mich leise. Ihr Grün tut so wohl nach all‘ den schrillen Farben, dem Lärm, der Betäubung der Stadt. Wir kennen uns schon so lange. Ihre Stille lässt mich wieder hören.
Von sehr fern einen verklingenden Geigenton, zart wie der letzte Atem und der erste rosige Lichthauch. Mahler. Gustav Mahler. Die Neunte. Wer so etwas hört, ist offen für mich. Die Musik weist mir den Weg.
Da ist sie! Die, die ich suche. Sensibel und jung.
Das Mädchen liegt angezogen auf ihrem Bett. Sie sieht nichts, sie hört nichts, sie fühlt nichts. Nicht einmal die Musik, die sinnlos sich verströmt.
Immer und immer wieder versuche ich, Zugang zu finden. Sie soll doch Kunde geben! Sie aber fühlt sich an wie grauer Isolierschaum. Nichts kann ich bewirken.
Ihre Mutter öffnet leise die Tür, reicht ihr liebevoll ein Glas Wasser und eine Tablette.
„Übermorgen ist die Mathearbeit. Du weißt, was davon abhängt.“ Das Mädchen schluckt willenlos.
Wenn ich weinen könnte, täte ich es jetzt. Ich wusste gar nicht mehr, wie Schmerz sich anfühlt. Arme kleine, große, alte Seele. Besser, Du kommst schnell zu uns. Bevor ich sie verlasse, umhülle ich sie ganz und gar, versuche, sie zu wärmen. Vielleicht erinnert sie sich irgendwann, dass es Freiheit gibt. Dass wir die absolute Freiheit sind. Dass für uns Zeit und Raum und Materie nichts bedeuten.
Nur sehr zögernd verlasse ich sie und suche weiter. Sie war es nicht, die mich rief.
Ratlos lasse ich mich treiben. Hier und da piepst ein Vogel im Schlaf, faucht eine Katze und sträubt ihr Fell. Sehr fern spüre ich die Unsrigen trotz der kunstlichtdurchzuckten Dunkelheit. Ich möchte so gern zurück.
Ein leises Summen. Tatsächlich Kontakt. Ich mag es kaum glauben.
Eine Frau versucht, über uns zu schreiben. Ich werde ganz und gar sie, bleibe trotzdem, was ich war und bin und sein werde, überflute ihre Seele mit Farben und Worten, Bildern und Melodien, lasse keine rationale Einmischung zu. Sie beginnt zu schreiben. Schneller, immer schneller. Ihre Finger fliegen über die Tastatur.
Sie wird mich Inspiration nennen. Vielleicht sogar begreifen, dass auch sie eine von uns ist, eine von unendlich vielen.