Von Susanne Rzymbowski

Waldemar hat Zeit und so bettete ich ihn wieder in seine Kissen, die nach Griesgrämigkeit rochen, und ein wenig verspeckt vom fettigen Haar, noch einmal von mir aufgeschüttelt wurden.

Auch das Laken strich ich wieder glatt, in dem er sich immer wälzte in den Stunden der Dämmerung, kurz vor dem Abendessen, so dass ich wütend wurde, weil er alles durcheinander brachte.

Nun lag er wieder einfach so da, in diesem Weiß, das ihn umhüllte und starrte an die Decke ohne die Mundwinkel zu bewegen.

Ich fragte mich, was wohl in ihm so vorging, ihm, der niemals sprach und wie eine vergessene Puppe die ganze Zeit im Bett verbrachte.

Selbst seine Augen erzählten nicht, so ohne Feuer waren sie.

Aber sie hatten einen eigentümlichen Glanz, der trotz der Milchigkeit seines fast verlorenen Augenlichts eine ungeheure Anziehung auf mich ausübte. Es ging ein Sog von ihnen aus, den ich mir nicht erklären konnte.

Ich versuchte immer, mir meine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen und erledigte auch heute routinemäßig meine Arbeit, wobei ich es vermied, Waldemar in die Augen zu blicken.

Ich ging nicht mehr gerne in sein Zimmer, denn er sprach ja nie und regte sich keinen Millimeter, wenn ich da war.

Was war ich doch froh gewesen, endlich eine Stelle bekommen zu haben. Insgeheim hatte ich auf ein paar anregende Gespräche gehofft, denn schließlich hatte Waldemar früher einmal im Zirkus gearbeitet, wie mir erzählt wurde.

Ich zumindest stellte mir das Zirkusleben kunterbunt vor. Als Kind habe ich keine Vorführung ausgelassen, wenn die Wanderzirkusse in unser kleines Dorf kamen und strolchte meist die ganze Zeit um die provisorischen Tiergehege herum.

Damals hatte ich noch keine Vorstellung von Freiheit, und so war es für mich ganz normal, dass die Tiere eingepfercht auf kleinstem Raum für uns zur Schau gestellt wurden.

Vielleicht war ich aber selbst noch frei gewesen und als Kind macht man sich darüber ja nun auch keine Gedanken.

Ob sich Waldemar auch eingepfercht fühlte?

Was er wohl damals im Zirkus gemacht hatte?

Ich stellte mir vor, dass er Jongleur gewesen sein musste, denn er hatte trotz seines Alters noch sehr schöne und beweglich wirkende Hände.

Ob er, wie ich mir als Kind gewünscht hatte, eines Tages einfach in einen Wagen gestiegen und mitgefahren ist?

Nun, Waldemar sprach kein Wort und ich hatte mich zu früh gefreut, etwas von ihm zu erfahren. Sein Schweigen und die damit verbundene Eintönigkeit waren gepaart mit einer Stille, die ich kaum zu beschreiben wusste und die mir unheimlich war. Ich ertappte mich dabei, die ganze Zeit wie auf Zehenspitzen zu gehen, so als ob ich einen Schlafenden nicht wecken wollte, dabei war Waldemar hellwach – das spürte ich instinktiv.

Ich fühlte mich von ihm beobachtet! Er starrte mich nicht etwa an, oder verfolgte mich mit seinen Blicken. Aber irgendetwas in seinen Augen ließ mich innerlich aufhorchen. Und das wollte ich nicht!

Mittlerweile träumte ich sogar von ihm. Erst gestern: Ich saß in meinem Zimmer und plötzlich stand mein längst verstorbener Hund schwanzwedelnd  vor mir und begrüßte mich mit der Unbändigkeit, die ihm so eigen war. Völlig ungläubig – wissend, dass das nicht sein konnte – versuchte ich aufzuwachen. Ich schaute hilfesuchend zu einer offenen Tür und da stand Waldemar! –  lächelnd, klitzekleine leuchtende Knochen jonglierend und hörte meinem verstorbenen Vater zu.

Mein Vater erzählte ihm aus seiner Kindheit – natürlich wieder über den großen Uhu, der bei Nacht sein Unwesen trieb und wie er sich gegruselt hatte vor diesem lautlosen Flügelschlag.

Ich war schockiert, schreckte förmlich aus dem Schlaf und hatte Mühe einen klaren Gedanken zu fassen. Mein Herz pochte und mir war unbehaglich in meiner Haut. Was hatte das zu bedeuten?

Natürlich machte ich mir sofort Sorgen.

Überhastet eilte ich also heute Morgen ins Altenheim und fragte direkt nach Waldemars Befinden, was mit einem verwunderten Blick quittiert wurde.

Nicht erstaunlich, denn Waldemars Gesundheitszustand war  bemerkenswert gut. Er hatte keinen Zucker, sogar noch fast alle Zähne und litt nicht unter Übergewicht. Er sah noch ganz drahtig aus.

Ob er wohl viel Sport getrieben hatte in seiner Jugend? Waldemar konnte ich mir gut als Langstreckenläufer vorstellen. Er hatte so etwas Ausdauerndes in seinen Gesichtszügen.

Was veranlasste ihn bloß jetzt, sich so auszuschweigen?

Normalerweise erzählen alte Menschen doch gerne. Ich liebte die Erzählungen der Alten. Sie haben eine ganz besondere Art sich auszudrücken, meist einen hintergründigen Humor, wenn sie nicht gerade verbittert waren – eben eine, wie ich fand, nur alten Leuten gegebene Ruhe und Anschaulichkeit, die ich sehr mochte. Was wohl in den Alten so vorging?

Sie hatten schon so viel gesehen und auch den Krieg mitgemacht oder zumindest dessen Nachwehen am eigenen Leibe erfahren. Für mich unvorstellbar, auch wenn jetzt wieder die Welt voll von Kriegen war. Die gibt es aber für mich nur im Fernsehen, weil sie noch weit weg sind – und das ist doch etwas ganz anderes.

Ich war derart in Gedanken, dass ich kaum bemerkte, wie mein Blick wieder auf Waldemars Augen fiel.

Es war dieser besondere Glanz, der mich wieder ins Hier und Jetzt beförderte.

Nicht wie bei einer Glasmurmel oder den Knopfaugen eines Plüschtiers – nein, es war so ein stumpfer Glanz, der irgendwie leuchtete, so nach Innen herein. Als wenn sie nichts mehr zu fragen schienen.  

Ich musste mich von ihnen losreißen – fast fluchtartig verließ ich sein Zimmer.

Ich ärgerte mich, dass so ein alter Griesgram mich aus der Fassung bringen konnte. Wieder hatte ich die Zeit bei ihm vertrödelt und musste mich nun sputen, bis Mittag mit allem fertig zu werden.

So oder so, immer war ich aufgewühlt, wenn ich von Waldemar kam.

Was hatte ich mir schon über ihn Gedanken gemacht. Anfangs war ich mir sicher, dass er etwas gegen mich haben musste, bis mir Christine – eine Kollegin – erzählte, dass er sich bei ihr ebenso verhielt.

Christine sagte nur: „Mensch, nimm dir das doch nicht so zu Herzen, sonst bist du hier ganz falsch aufgehoben.“

Also fragte ich seitdem nichts mehr, um nicht als dienstuntauglich eingestuft zu werden. Es ging mich im Grunde genommen auch nichts an. Meine Aufgabe war es schließlich, dafür zu sorgen, dass alles ordentlich war.

Alle anderen waren doch froh, dass Waldemar nicht so viel Aufhebens machte. Er war eigentlich sehr pflegeleicht.

Wenn bloß nicht dieser Blick wäre!

So etwas habe ich einfach noch nicht gesehen – zumindest kann ich mich nicht daran erinnern – und dennoch kommt es mir bekannt vor.

Ich war mit meiner Arbeit mittlerweile in der 2. Etage angekommen und froh, die vertändelte Zeit wieder aufgeholt zu haben.

Wenn ich mich da noch an meine ersten Tage erinnerte: Ich hatte Waldemar sogar Blumen mitgebracht, um irgendeine Reaktion zu erhaschen. Aber natürlich nichts. Das Zimmer blieb ein Vakuum.

Nach einer Woche hab ich damit aufgehört – so viele Wiesenblumen gab’s nun auch nicht auf meinem Weg. Sogar meine Schneekugel hatte ich ihm geschenkt. Sie war wie für ihn gemacht, denn es war ein kleines Zirkuszelt darin aufgebaut.

Waldemar hat sie sich noch nicht einmal angeguckt, zumindest nicht in meiner Anwesenheit.

Warum konnte ich nicht einfach nur meine Arbeit machen? Ich könnte doch zufrieden damit sein, dass mich die anderen Hausbewohner mochten und mir ihre Geschichten erzählten. Manchmal fand ich es verwunderlich, dass es vorwiegend Kindheitserinnerungen waren, die sie mir offenbarten.

Ich dagegen hatte sonderbarerweise kaum Erinnerungen an meine Kindheit.

Vielleicht war ich noch zu jung, um in ihnen zu schwelgen.

Doch noch pünktlich wurde ich endlich mit meiner Runde fertig, als ich mit einem Mal unruhig wurde.

Ich musste noch einmal zu Waldemar!

Ich hatte das Gefühl, etwas vergessen zu haben.

Mit eiligen Schritten lief ich zurück.

Waldemar lag in seinem Bett und sah wie unberührt aus.

Ich stellte mich neben ihn. Wieder passierte es mir, dass ich den Blick nicht von seinen Augen zu lösen vermochte.

Dieser Glanz, der mich immer wieder rätseln ließ.

Und plötzlich verstand ich ihn!

Er reflektierte die Welt – mit jeder Faser seines Körpers – wie ein Reflektor am Fahrrad, der das Licht fängt.

Und ich sah mich! – Das erste Mal!

Ich beugte mich über Waldemar und gab ihm einen langen Kuss.

Ein Lächeln umspielte seine spröden Lippen und er entspannte sich so sehr, dass er zu atmen vergaß.

 

Ich hielt seine Hand bis sie kalt wurde.