Von Glädja Skriva

Besuch ist angesagt. Jeden Sonntag! Bei Tante Wilma und Uroma. Alles ist dort fein. Die Häkelspitzdeckchen. Der abgespreizte Finger beim Teetrinken. Das hauchdünne Porzellan und gehauchte „ma cher“.

 

Wir, meine Schwester und ich, sind ausgestattet worden. Mit Samtkleid. In Dunkelblau und gestärktem, weißen Kragen. Die Unterhaltung schleppt sich korsettähnlich dahin. Meine Schwester und ich wagen kaum zu atmen, geschweige denn ein Wort einzuwerfen, um nicht einen strafenden Blick von Mutter zu ernten. Uroma thront über allen. Zierlich. Zerbrechlich. Durchscheinend. Wächsern, mit einer Haut wie bei einer Statue im Wachsfigurenkabinett.

 

Ich kann mich an kein einziges Wort erinnern, das sie jemals an uns gerichtet hätte. Sie schien mir wie eine Puppe aus dem Antiquitätenladen. Kostbar. Unerreichbar entfernt. Wie aus einer anderen Zeit und Welt.

Ich konnte nie glauben, dass eben diese Puppe eine Frau sein sollte. Aus Fleisch und Blut, die meinen Opa geboren hatte. Unter Schmerzen und voll Freude. Und dass Opa bei ihr auch seine verrückten Späße trieb und so lustig Akkordeon spielte, wie er es liebte. Denn wir durften nie dabei sein, wenn er sie jede Woche freitags besuchen musste. Ich stellte mir vor, wie er dann ein anderer wurde. Wie er sein Akkordeon auf die Seite legte und seine Miene ernst und traurig wurde. Und er plötzlich ein kleiner Junge war, der ängstlich vor einem Thron stand, der weit, weit weg von ihm kaum mehr zu sehen war. Und auch ich ängstlich wurde, weil diese Herrscherin auf dem Thron nur kühl blickte, nichts sprach und unantastbar fern schien. Denn antasten durfte ich sie auch nicht.

 

Als Jahre später die Glocken läuteten, war es, als würde ein neues Zeitalter beginnen. Der Bann war gebrochen. Die Hüterin des Geheimnisses war gestorben. Endlich durfte man darüber sprechen, worüber nie gesprochen werden durfte, nämlich, dass eben diese Frau unehelich zur Welt gekommen war. Gezeugt von einem englischen Grafen und seiner Magd, weggeschafft in ein französisches Internat. Ma cher!

 

Die Friedhofsgesellschaft wurde plötzlich bunter, lauter. Es wurde angestossen auf den rötlichen Glanz der Haare. Ein schottischer Reitknecht hatte da wohl auch noch mitgemischt? Tee, versetzt mit Whiskey, schwappte in den Tassen und es wurde sich lebhaft darüber ausgetauscht, dass man jetzt endlich verstehen würde, warum man es liebte im Regen spazierenzugehen und abends auf der Couch zu liegen, um in englischen Krimis und Jane Austen zu schmökern.

 

Mit jedem „Cheers“ bekam Uromas gläserne Haut plötzlich Farbe. Ihre Wangen schienen in der Erinnerung einen Hauch von Rosarot zu haben und ich wurde ein wenig stolz auf sie. Wer hatte schon einen englischen Grafen als Vater? Vielleicht in direkter Linie zu Prinz Charles? Und wer konnte von sich sagen, so jung, bereits die weite Welt und das verruchte Paris gesehen zu haben?

 

Opa wirkte plötzlich wie verwandelt. Scherzend legte er seinen Arm um Oma, kniff sie dann liebevoll in ihren Hintern, um ihr anschließend etwas in ihr Ohr zu flüstern. Ich nehme an, einen der schmutzigen Witze, die er später in seinem kleinen Notizbuch zu sammeln begann und bei Gelegenheit mit Akkordeonuntermalung lachend erzählte. Das Büchlein liegt heute in meinem Nachttisch.

 

© P.S./Glädja Skriva/Juli 2017