Von Barbara Hennermann

 

Lucia rannte den steinigen Weg ins Tal hinunter. Der lange Rock wickelte sich um ihre Beine und sie musste aufpassen, nicht der Länge nach hinzuschlagen. Mutter würde bitterböse werden, wenn das Kleidungsstück Schaden nahm.

Sie hatte sich oben an der Bergwiese mit der Zeit vertan. Ein Lämmchen war von der Herde abgekommen. Das Mädchen hatte es liebevoll auf den Arm genommen und dem Mutterschaf wieder zugesellt.

Jetzt aber senkte sich die Sonne bereits hinter dem Hügel und warf lange Schatten auf das Geröll. Kurz entschlossen raffte Lucia den hinderlichen Rock nach oben. Es würde sie schon keiner hier in der Abgeschiedenheit sehen!

Ihr Vetter Francisco hatte ihr heute Morgen eindringlich ans Herz gelegt, pünktlich vor Einbruch der Dämmerung zur Steingrotte zu kommen. Wenn Francisco, der im Allgemeinen lieber in sich selbst hineinhorchte als mit anderen Menschen zu kommunizieren, so etwas wünschte, dann musste es sich um etwas wirklich Wichtiges handeln. So war es auch die Neugier, die sie den Berg hinabtrieb…

 

Endlich sah Lucia die Gestalt des Buben auftauchen.  Er war zwar ein Jahr jünger als sie, aber hoch aufgeschossen und dünn wie eine Bohnenstange. Vielleicht war er ja deshalb ständig vom Husten geplagt und hatte wenig Lust auf Gespräche? Lucia jedenfalls war froh, dass sie von derberer Statur und deshalb weniger krankheitsanfällig war. Zumindest drückte ihre Mutter das so aus.

 

„Hallo, Francisco!“ Sie winkte dem Vetter zu.

Jetzt sah sie, dass er nicht alleine gekommen war. Wie meist hatte er Jacinta, seine kleine Schwester, im Schlepptau.

Verschwitzt und abgehetzt kam sie neben den beiden Kindern zum Stehen.

„Na, Francisco, was hast du mir denn Wichtiges zu zeigen?“

Sie drehte sich im Kreise, konnte aber nichts Besonderes entdecken.

„Psst!“

Der Junge legte seinen Zeigefinger beschwörend an die Lippen. Seine blassblauen Augen irrten ziellos umher. Lucia fragte sich im Stillen, warum ihr Vetter sie wohl so lebhaft an den Fisch erinnerte, den ihr Vater neulich mit nach Hause gebracht hatte?

„Ja also, mal echt, Francisco! Was willst du denn von mir?“

Irgendwie ging ihr dieses planlose Umhersehen gewaltig auf die Nerven.

„Jetzt red´ doch endlich!“

Es war die kleine Jacinta, die ihr Antwort gab.

„Francisco hat eine Nachricht vom lieben Gott bekommen!“

Aufgeregt bohrte die Kleine in ihrer Nase.

„Heute Nacht. Und er will uns alle drei hier treffen. Bestimmt nimmt er uns dann mit zu sich! Hat Francisco gesagt!“

Ihre Stimme wurde immer lauter und schriller vor Aufregung.

„Jacinta, du spinnst doch. Nimm den Finger aus der Nase!“

Lucia wurde langsam ärgerlich.

 

Sie hätte gar nicht kommen sollen. Mutter hatte Recht. Francisco und Jacinta waren nicht ganz normal. Selbstverständlich lebten auch sie zu Hause nach den Geboten Gottes, so wie sie in der Kirche verkündigt wurden. Aber das war ja nun noch lange kein Grund, sich den Tod zu wünschen, um bei Gott zu sein. Dafür war das Leben doch viel zu wichtig! Lucia konnte mit solchen Aussprüchen nichts anfangen. Und auch Mutter sagte immer zu Vater: „Daran ist deine spinnerte Schwester Schuld. Die hätte gar nicht heiraten sollen.“ Vater meinte dann: „Die ist schon als Kind am liebsten bei Pater Moreno auf dem Schoß gesessen. Noch lieber wäre sie in den Tabernakel gekrochen. Vielleicht liegt’s daran.“ Dann sahen sich die Eltern an und wechselten das Thema.

 

Lucia wischte sich mit der Hand über die Stirn und die Gedanken fort. Sie bedachte den Jungen mit einem strengen Blick.

„Francisco, jetzt sag endlich was! Sonst geh´ ich wieder.“

Der Junge druckste herum.

„Ja, nein, natürlich nicht … nicht der Herr … ich hab´ bloß so komisch geträumt … und ich hab´ mir gedacht …“

Seine Augen weiteten sich.

Sein Blick fixierte etwas hinter Lucia.

Jacinta warf sich zu Boden und vergrub ihr Gesicht in der Erde.

 

Jetzt sah es auch Lucia …

 

Nicht ES.

 

SIE.

 

Eine Frau.

Weiß gekleidet.

Von solcher Schönheit, wie sie noch nie ein Wesen gesehen hatte. Leuchtend wie die Sonne, jedoch ohne deren sengende Glut.

Ein Wesen nicht von dieser Welt.

Und doch so vertraut und nah.

 

Zärtlich klang ihre Stimme, liebevoll, schmeichelnd.

„Fürchtet euch nicht, Kinder! Ich will euch nichts Böses.“

Lucia war die Erste, die sich fasste.

„Wer bist du? Was willst du von uns?“

„Ich komme vom Himmel“, antwortete die Frau. „Ich habe euch eine Botschaft zu vermitteln, die ihr in die Welt bringen sollt.“

 

Lucia streifte mit einem verächtlichen Blick ihre Verwandtschaft: Francisco glotzte die Frau verständnislos mit seinen wasserblauen Augen an, während Jacinta wimmernd den Kopf weiter in der Erde verbarg. 

Dann fragte sie: „Welcher Art soll diese Botschaft sein und wem sollen wir sie überbringen?“

Die Frau lächelte sie an.

„Ich sehe, es war richtig, dich dabei haben zu wollen.“

Sie sah zu den beiden anderen Kindern hinüber.

„Vielleicht ist zu viel Frömmigkeit tatsächlich dem realen Leben abträglich.  Doch habt keine Sorge! Ich regle das für euch.“

Lucia runzelte die Stirn. Hatte die Dame eben geschmunzelt?

Sie fragte sich, was ihre Mutter wohl zu all dem sagen würde, wenn sie ihr später davon berichtete.

 

Als könnte die Erscheinung Gedanken lesen, fuhr sie fort:

„Ich möchte euch bitten, vorerst Stillschweigen zu bewahren. Aber ich erwarte euch von jetzt an in den kommenden sechs Monaten jeweils am gleichen Tag wie heute und zur gleichen Uhrzeit an diesem Ort.  Dann werde ich euch meine Botschaften offenbaren, damit ihr sie in die Welt tragt.  Seid ihr bereit, euch Gott darzubieten und alle Leiden zu ertragen, die er euch schicken wird? Seid ihr bereit, für die Sünden zu sühnen, durch die ER beleidigt wurde, und zur Bekehrung der Sünder?“

Lucia sah zu Francisco. Tränen quollen aus seinen wässrigen Augen  und überschwemmten sein Gesicht, das in angstvoller Ekstase angeschwollen schien. 

Sie sah zu Jacinta, deren Gesicht mit Erde, Tränen und  Rotz verschmiert war.

Und aus beiden Gesichtern schrie ihr die Antwort entgegen: JA! Wir wollen leiden!

 

Sie schüttelte sich.

Schüttelte sich und konnte es dennoch nicht vertreiben.

Das Gefühl in ihrem Herzen.

Die Freude.

Den Stolz.

Auserwählt zu sein. Auserwählt von der Gottesmutter.

 

Und sie nickte …

 

 

Lúcia dos Santos, Francisco und Jacinta Marto wurden bekannt als „die drei Hirtenkinder von Fátima“. Während Francisco und Jacinta im Kindesalter verstarben, erreichte Lúcia das gesegnete Alter von 98 Jahren und wurde nach einem Leben im Kloster selig (?) gesprochen. Sie hatte der Kirche und der Welt  „Geheimnisse der Gottesmutter“ mitzuteilen, die flugs im Sinne derselben (Kirche und Welt) interpretiert wurden.

 

 

Hb 7/17 V3

 

Quelle: Wikipedia, kathpedia