Von Daniela Recht

Warum war sie heute nicht zur Arbeit erschienen? Das sah Ebru nicht ähnlich. Normalerweise schrieb sie ihr immer eine kurze Nachricht, wenn sie nicht ins Büro kam. Heute würde Angelika also länger arbeiten müssen, jemand musste den Kram schließlich erledigen. Das war der Nachteil ihres Zwei-Frauen-Betriebs. Sie seufzte auf und blickte aus dem Fenster. Der Himmel war so unverschämt blau und die Sonne knallte schon seit dem frühen Morgen herunter, dass Angelikas Motivation gänzlich schwand. Sie wäre gerne auf einer Wiese gelegen, barfuss, um sich vom Gras kitzeln zu lassen, hätte gern an einem Eis geleckt. Stattdessen nahm Angelika den Stapel Unterlagen und räumte ihn in das Regal ein. Sie würde Ebru später simsen. Durch das dicke Glas sah sie drei junge, dunkle Männer mit langen Bärten, die in ein Polizeiauto gedrängt wurden. Der Beamte schubste den letzten Mann dieser Gruppe in den grün-weißen Einsatzwagen, knallte beide Türen mit seinen muskelbepackten Armen zu, sodass Angelika zusammenzuckte, als ob sie unten neben dem Fahrzeug stünde. Was die wohl verbrochen hatten? Aus unerklärlichen Gründen widerte sie der Polizeibeamte an, sein rotes Gesicht, das jede Sekunde zu platzen drohte, sein hähmisches Grinsen, das Angelika total fehl am Platz erschien. Wie ein Pittbull. Fleischig, weit auseinander stehende Augen. Bereit zum Angriff. Vor dem Computer sitzend überflog sie gelangweilt die Emails, die ihren Ordner überschwemmten. Immer dieselben Wörter, schnell, dringend, heute noch. Nur weg damit. Sie klickte auf die Nachrichten, stutzte, als ihre Augen bei dieser Meldung hängenblieben: Flüchtlingsboot in Not – Tausende von Flüchtlingen stecken fest, europäische Regierungen weigern sich, diese in ihren Ländern aufzunehmen.

Schon das dritte diese Woche. So eine Schweinerei. Angelika schüttelte ihren Kopf, lange, schwarze Locken fielen ihr dabei ins Gesicht. Sie strich sich das dicke Haar aus dem Gesicht und hörte ein Raunen, ihr Magen, der sie daran erinnerte, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte. Mit dem Geldbeutel in der Hand lief sie die Treppen herunter und stieß die Tür nach draußen auf. Wie ein Hund, der seine Strecke in und auswendig kannte, schlenderte Angelika unmittelbar zu ihrem Lieblingsladen, der sie täglich mit Kaffee, Essbarem und oft mit einem heiteren Geschwätz versorgte. Ebru normalerweise auch. ONKEL-MEHMET, das Schild, das seit den letzten Jahren zuverlässig unverändert hing, sah heute ramponiert aus und Angelika wunderte sich über das T, dessen grüne Farbe sich über Nacht fast aufgelöst hatte. Aisha saß bewegungslos auf dem Stuhl, den Kopf in die Hände gestützt. Kisten von Gemüse und Obst standen im Weg herum und Angelika wäre beinahe über eine gefallen, als sie den Laden betrat und das Mädchen regungslos in der Ecke antraf.

«Was ist denn hier los?»  Sie bückte sich zu Aisha herunter, nahm die Hände des Mädchens  aus ihrem Gesicht. Das Kopftuch des Mädchens war völlig verrutscht und Angelika rückte es zurecht.

«Was ist denn passiert?»

Aisha schluchzte und schlug sich erneut die Hände vor das Gesicht «Mehmet, Onkel Mehmet.» Ihr Schluchzen nahm zu und Angelika entschied, sich nicht vom Fleck zu rühren, das Mädchen fest in den Armen zu halten, bis es sich wieder beruhigt hatte.

***

«Endlich sind die weg. Gestern Nacht haben sie den Mann abgeholt, ins Auto gepackt und weg war er.»

«Gestern Nacht? Und das Mädchen?» Die ältere Frau blickte ihre Nachbarin erwartungsvoll an.

«Die habe ich nicht gesehn. Gut, dass endlich mal was passiert. So viele Ausländer überall, das war ja nicht mehr auszuhalten, all diese Frauen mit ihren Kopftüchern und der dumme Gesang jeden Tag. Da wird man ja ganz doof dabei. Sollen die wieder dorthin zurück, wo sie her gekommen sind. Die Frau stemmte ihre Hände in die Hüften und ihre ältere Gesprächspartnerin nickte zustimmend. «Das neue Gesetz. Endlich macht mal einer was. Ruhig wird’s hier wieder werden, Frau Lohre. Ruhig. Endlich. Schönen Tag wünsch’ ich Ihnen noch. Auf Wiedersehn.»

«Auf Wiedersehen. Und Grüße an die Familie.»

***

Angelika saß auf einer Bank in einem Park, starrte in die Gegend und nippte an ihrem Cappuccino, den sie sich aus dem Geschäft, das sich neben Onkel-Mehmets Laden befand, geholt hatte. Sie blickte sich um und nahm wieder ein Polizeiauto wahr, das dunkle Männer in Handschellen abtransportierte. Dieses Mal waren es sogar zehn. Wieder blickte sie in ein rotes Gesicht eines Beamten, dessen Schweißperlen auf dem Gesicht hinab rannen. Was war heute nur los? Warum wurden so viele Menschen verhaftet und warum sagte niemand etwas dazu? Onkel Mehmet war in der Nacht zuvor ebenfalls abtransportiert worden, ohne Kommentar oder Erklärung, wie Aisha ihr erzählt hatte. Sie hatten die Wohnungstür aufgebrochen und ihn in Handschellen abgeführt und an die Grenze nach Ungarn gebracht. Dann zurück in die Türkei. So viel hatte seine Nichte herausgefunden, die sich in Todesangst unter ihrem Bett versteckt hatte und nicht erwischt worden war. Sie hatte Aisha ihren Wohnungsschlüssel gegeben, damit sie dort auf sie warten konnte. Angelika blickte durch die Gegend, blickte nach rechts und links, als ob sie so herausfinden würde, was anders in ihrer Umgebung aussah. Irgendetwas war anders als sonst. Die Stimmung ruhig, passiv, als ob nur Angelika sehen konnte, was um sie herum geschah. Und, wo um Gotteswillen war Ebru? Warum hatten sie Mehmet abgeschoben, Mehmet, der seit vierzig Jahren in Berlin lebte, sein eigenes Geschäft führte und glücklich hier war? Obwohl die Sonne schien, fröstelte es Angelika und sie hätte sich gerne eine Strickjacke umgelegt. Eine Frau mit hellbraunen Haaren und blauen Augen saß neben ihr und starrte sie an. «Entschuldigen Sie, sprechen Sie Deutsch?»

«Ja, natürlich.» Angelika lachte nervös «Ich bin Deutsche, bin in Berlin geboren.»

«Ach, wirklich. Ich dachte nur bei ihrem schönen, schwarzen, dicken Haar und ihrem dunklen Teint. Sie sehen irgendwie exotisch aus. Wie eine Frau aus Tausendundeine Nacht.»  Die Frau setzte ein Lächeln auf, das Angelika als gezwungen empfand. Was wollte sie von ihr? «Wissen Sie, ich lebe allein in Berlin und komme oft in den Park hierher. Es ist so friedlich hier.»

Vielleicht fühlte sich diese Frau wirklich nur einsam und hatte deshalb angefangen, sich mit ihr zu unterhalten. Angelika versuchte, sich normal zu benehmen, ihre paranoiden Gedanken beiseite zu schieben, aber es fiel ihr schwer, dieses beklemmende Gefühl los zu werden. Für sie war es offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. War sie denn die Einzige?

«Ja, es ist schön hier. Meine Großeltern kamen aus der Türkei. Sie haben mir noch ein bisschen was vererbt.» Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre Haare. «Obwohl…  die Sprache und Kultur kenne ich nicht mehr. Eigentlich schade. Meine Mutter starb früh und mein Vater ist Deutscher.»

«Ja, wirklich ein Jammer.» Die Frau stand auf einmal auf und packte ihre Sachen zusammen. Ihre Wangen erröteten, ihre Augen schimmerten, als ob sie durch etwas in Aufregung geraten war. Angelika rief ihr noch ein «Auf Wiedersehen» zu, doch weg war die Frau, sie huschte wie ein Tier auf und davon. Angelika schüttelte den Kopf. Was war heute nur ein seltsamer Tag?  Sie erkannte ihr schönes Berlin nicht wieder.

***

Bei dem diesjährigen Sondergipfel in Brüssel, an dem alle europäischen Länder teilnahmen, waren sich die Mitgliedstaaten über den Erfolg des neuen europäischen Ausländer- und Asylgesetzes einig. Darin hatten die Staaten einige Wochen zuvor vereinbart, dass bei allen Ausländern, die sich in den jeweiligen europäischen Ländern aufhielten, ohne Angaben von Gründen eine sofortige Abschiebehaft verhängt werden dürfe. Alle Staaten waren sich einig gewesen, dass die Migranten- und Asylpolitik härteste Maßnahmen erfordere, um Kriminalität und Terrorismus schnellstmöglich zu beseitigen. Axel Baumann, Bundeskanzler und Parteivorsitzender der rechtsextremen Partei RfD, meinte, dass durch das neue Gesetz erhebliche Veränderungen in Deutschland stattfänden: «Veränderungen, die sich nur positiv auf die Landschaft Deutschlands auswirken werden.» Außerdem beteuerte er, dass alle Bürger, die bei dieser Entwicklung mithülfen, eine finanzielle Unterstützung bekämen. «Die, die mit uns kooperieren, können natürlich erwarten, dass wir sie mit Dankbarkeit belohnen werden.» Andere Parteien aus den europäischen Ländern unterstützten den Bundeskanzler und sicherten ihm jede Unterstützung für seine Politik und Agenda zu.

***

Mit einem lauten Gähnen sperrte Angelika ihre Haustür auf. Was für eine Tag. Sie zog ihre Schuhe aus und warf sie in die Ecke des Flures. Sie freute sich auf den Abend mit Aisha und hoffte, dass es ihr wieder besser ging, sie vielleicht herausgefunden hatte, wo sich ihr Onkel derzeit aufhielt. Sie trottete ins Wohnzimmer und war gerade dabei, sich auf die Couch zu setzen, als sie zwei Polizeibeamte erblickte, die wie zwei Statuen mitten in ihrem Wohnzimmer standen.

«Sind Sie Angelika Reischl?»

«Ja, aber was machen Sie hier in meiner Wohnung?»

«Nach Paragraph 413 haben wir die Anordnung, Sie mitzunehmen. Die Regierung hegt den Verdacht, dass sie aufgrund von türkischen Vorfahren derzeit nicht das Recht haben, sich auf deutschem Boden aufzuhalten. Sie werden aufgefordert, unverzüglich mit uns mitzukommen.»

Angelika sah zu den Herren in Uniform und spürte das Frösteln wieder. Dann stimmte das also mit dem Gesetz. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen, die ganze Zeit über nicht. Hatte den Artikel in der Zeitung nicht geglaubt. Der Raum, ihre eigenen vier Wände, boten ihr keinen Schutz mehr. Sie überlegte einen kurzen Moment, Widerstand zu leisten, zu fliehen. Doch sie wusste, es war ausweglos. Sie hatte keine Chance. Wenn sie wegliefe, würden sie sie fangen, wie sie es vermutlich mit Ebru gemacht hatten. Oder mit Aisha. Sie guckte beiden Männern in das rote, fleischige Gesicht. Und in die weit auseinander stehenden Augen. Was war mit dem Berlin passiert, in dem Menschen unterschiedlichster Herkunft friedlich nebeneinander lebten? Warum hatten die wieder mit diesem Gräuel angefangen?