Von Juliane Kunz Seidel
Es ist viel zu spät, um alleine mit der S-Bahn zu fahren. Ich weiß das. Doch der Abend lief anders als geplant und jetzt ist es nun mal so. Ich setze mich in die hinterste Reihe, ganz außen ans Fenster. Der Wagen ist leer, ich bin allein. Meine Mutter sagt immer, ich solle mich in der Bahn zu den Omas setzen, aber um diese Uhrzeit ist keine mehr unterwegs.
Der Zug fährt langsam in den Hauptbahnhof. Es ist wenig los.
Vielleicht fallen sie mir deshalb sofort auf. Vielleicht wären sie mir auch dann sofort aufgefallen, wenn der Bahnhof voller Menschen gewesen wäre. Eine Gruppe Jugendlicher randaliert auf dem Bahnsteig. Sie sind schwarz gekleidet, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. In der Hand halten sie Flaschen – Bier und härteres Zeug. Sie stürzen den Alkohol hinunter als wäre er Wasser.
Die Bremsen des Zuges quietschen, er wird langsamer. Und mir wird klar: Der Wagen, in dem ich sitze, kommt direkt vor diesen Typen zum Stehen. Ohne nachzudenken, rutsche ich in den Fußraum und verstecke mich hinter den Rückenlehnen der Reihe vor mir. Es ist ein Impuls. Einfach so.
Die Türen öffnen sich und ich höre sie grölen. Sie entern den Wagen, nehmen mit ihrem Rausch mehr Raum ein, als es normal wäre für fünf Typen, die eine Bahn besteigen. Sie sprechen dieses merkwürdige Deutsch. Das ohne Artikel. Sie sind laut, treten gegen einen Mülleimer. Er fällt scheppernd zu Boden. Ich zucke zusammen, bleibe aber hinter der Rückenlehne ganz still. Sie brüllen, lachen, hauen gegen eine Scheibe. Ich wage nicht, zu atmen. Von dieser Sorte Typen hört man ständig, im Radio, in den Nachrichten.
„Mädchen die Treppe hinunter gestoßen“
„Junge Frau bewusstlos geprügelt“
„Mädchen überwältigt und vergewaltigt“
Die Sorte Typen, von denen du hoffst, dass sich deine Wege niemals mit den ihren kreuzen. Und jetzt sitze ich hier, allein in einem S-Bahn-Wagen und die Typen haben es sich vor den Türen bequem gemacht. Ich starre auf meine Handtasche.
Ich könnte darin nach meinem Handy suchen. Hilfe rufen. Die Polizei. Meinen Freund über die Schnellwähltaste. Aber ich kann nicht. Ich bin ein Stein.
Die Typen rülpsen laut, einer schmeißt eine Flasche gegen die Wand über mir. Sie zerbricht und die Scherben regnen auf mich hinunter. Es stinkt nach Bier. Ich halte mir die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien.
Ich war so dumm. Ich hätte Papa anrufen können. Er hat gesagt, er würde mich abholen. Doch ich wollte nicht. Wollte nicht warten, lieber mit der Bahn fahren. Ich wünschte, mein Papa wäre jetzt hier. Ich wünschte, ich könnte mich in seinen Armen verstecken. Ich wünschte, ich wäre daheim, in meinem Bett, sicher. In die Stille meines Kopfes brülle ich seinen Namen – ob er spürt, dass ich ihn brauche?
Wenn diese Typen seinem kleinen Mädchen etwas antäten, was würde er tun? Ich denke darüber nach, wie sehr er mich liebt. Und dann denke ich, dass diese Typen in ihrem Leben ein Mädchen haben sollten, das sie so lieben, wie mein Vater mich. Denn dann wüssten sie, dass es furchtbar weh tut, wenn einem Menschen, den man liebt, etwas Schlimmes zustößt. Nein, sie würden mir nichts tun, wenn sie ein Mädchen so liebten wie mein Vater mich.
Aber diese Typen haben kein Mädchen, dass sie so sehr lieben. Und ich frage mich, warum das so ist. Hat nicht jeder eine Mutter, eine Schwester, eine Oma, die er so sehr liebt, dass er nicht möchte, dass ihr etwas geschieht? Und ich denke, dass vielleicht die Frauen in ihrem Leben Schuld sind, dass diese Typen keine Frau lieben. Weil sie nicht geliebt wurden. Nicht genug geliebt wurden.
Einer sagt, er wolle noch nicht heim. „Lass noch Stress machen“, schlägt er vor.
Ein anderer antwortet: „Mach mer Party, Alda!“
Ich hoffe, sie steigen an der nächsten Station aus.
Und dann höre ich aus ihrer Richtung ein Klicken. Klick-klick, klick-klick. Immer wieder.
Was ist das? Ich muss es wissen.
Ich lehne mich vor, spähe an der Rückenlehne vorbei und sehe das Messer in einer Hand. Mein Blick wandert nach oben und findet ein Gesicht unter einer dunklen Kapuze.
Und er sieht auf. Unsere Blicke treffen sich.
Von jetzt auf gleich legt sich ein schwerer Kloß auf meinen Brustkorb. Ich bekomme keine Luft.
Er zieht die Mundwinkel nach oben, bewegt die Lippen.
Doch ich höre nichts mehr.
Nur noch das Rauschen in meinen Ohren.
Und ich denke an meinen Papa, der sicher noch wach liegt und auf mich wartet.