Von Marcel Porta

Durch den dämmrigen Nebel drangen kaum verständliche Worte an mein Ohr.

„Supak … oh, ein Han Mom … Lul und Con …“

Wer um alles in der Welt mochte das sein? Ein Verrückter? Und wo befand ich mich?

Die Stimme wurde lauter und endlich vernahm ich den ersten verständlichen Satz, den ich mangels anderer Anwesender auf mich bezog.

 

„Welche Sorte Bekloppter bist denn du?“

„Gar keine“, log ich dreist, ohne zu ahnen, welche Konsequenzen diese Antwort nach sich ziehen würde.

„Was?!“, brüllte der kleine Geistesriese und brachte es fertig, dass nach diesem einzigen geschrienen Wort bereits der Schaum vor seinem Mund stand. Mit einer heftigen Bewegung riss er sich seinen Hut vom Kopf und verbiss sich hinein, wie ein aufmerksamer Wachhund in den Schuh eines Einbrechers.

„Kopfbedeckungen isst man mit Messer und Gabel! Hat man dir denn in deiner Jugend gar nichts beigebracht?!“, wagte ich ihn zu belehren und rüstete mich, einer Attacke des Hutzelmännleins auszuweichen. Doch das erwies sich als überflüssig, weil er sich in Luft aufzulösen begann.

Gut, den war ich los!

 

Doch ich hatte mich zu früh gefreut, denn ich hatte anscheinend durch meine Bemerkung neue Plagegeister auf den Plan gerufen. Am Horizont tauchten ein riesenhaftes Messer und eine dazu passende Gabel auf. Die beiden bedrohlich wirkenden Essutensilien näherten sich mir mit großem Tempo. Die Gabel lief auf den beiden äußeren Zinken, während die mittlere sich schon darauf zu freuen schien, mich aufzuspießen, und das Messer schwebte knapp über dem Boden, die Schneide genau auf meinen Kopf ausgerichtet. Ihre Absicht war keineswegs ein unlösbares Rätsel. Sie hatten es auf mich abgesehen. Unverkennbar. Und da würde mir auch die Maske, die ich seltsamerweise trug, nichts helfen.

 

Ohne noch länger zu zögern, rannte ich los.

„Ich bin kein halver Hahn!“, versuchte ich mich verbal zu verteidigen, und hatte das dumpfe Gefühl, schon wieder gelogen zu haben. Zum Glück war ich immerhin noch so sehr bei Sinnen, dass ich trotz dieses etwas hilflosen Verteidigungsversuchs meinen Lauf nicht abbremste, sondern noch einen Zahn zuzulegen versuchte.

Doch trotz meiner beachtlichen Geschwindigkeit kamen die beiden mordlüsternen Esswerkzeuge näher und näher. Wenn sie mich erwischten, würde auf meinem Grabstein stehen: „Er kam um durch Messer und Gabel“, was ja eher auf einen Vielfraß oder einen extrem ungeschickten Menschen hinweist, als auf das Mordopfer lebendig gewordenen Bestecks, als welches ich mich bereits sah.

 

Gerade als die Riesengabel zustach, verhedderte ich mich mit den Füßen in einem undefinierbaren Etwas, stürzte und fiel, fiel endlos, weiter und weiter. Na, wenigstens hatte ich den beiden mir nach dem Leben trachtenden Spießgesellen ein Schnippchen geschlagen, auch wenn ich nicht wusste, ob meine jetzige Lage besser war.

Während ich noch darüber sinnierte, wie flach ich nach dem unvermeidlichen Aufprall wohl sein würde, schlug ich recht unsanft auf einer schrägen Metallfläche auf und rutschte auf ihr in rasendem Tempo bergab. Eine zu der schiefen Ebene senkrecht stehende Metallfläche beherrschte meine Gedanken, auf der ich einen roten Tintenklecks hinterlassen würde.

 

„Lieber Gott, lass mich nicht elend verrecken!“, betete ich zu einer höheren Instanz, an die ich sonst keinen Gedanken verschwendete.

„Ha, du Wurm!”, ertönte eine Antwort in meinem Kopf. „Erst versündigst du dich gegen meinen Schöpfungsplan, indem du Eva Adam ausspannst, und dann willst du von mir gerettet werden? Vergiss es! Und jetzt verpiss dich, du Arsch.“

Endlich hatte ich einen Beweis für seine Existenz, und sofort wurde mir klar, dass ich vorher besser dran gewesen war. Aber verflucht, woher wusste er das von Adam? War er am Ende doch allwissend, wenn auch nicht mit Allgüte gesegnet?

Wenn ich mich retten wollte, musste ich selbst etwas unternehmen. Trotz der rasenden Fahrt konnte ich erkennen, dass rechts und links zwei Hügel aufragten und ich durch das Tal dazwischen sauste. Und plötzlich, wie ein Geistesblitz durchzuckte mich die Erkenntnis, dass es sich bei den Hügeln um weibliche Brüste aus Stahl handelte. Und ich sauste durch die dazwischen liegende Schlucht abwärts. Wenn mich meine Kenntnis der weiblichen Anatomie nicht trog, geradewegs auf den Nabel zu, der bei diesen Größenverhältnissen und meiner Geschwindigkeit zu meinem Grab werden musste.

 

Mit Vehemenz wollte ich die Füße gegen das Metall pressen, um wenigstens ein wenig Bremswirkung zu erzielen, doch der Stofffetzen, der mich zum Stolpern gebracht hatte, verhinderte dies. Trotz der rasenden Geschwindigkeit, mit der es mit mir bergab ging, gelang es mir schließlich, den Stofffetzen von meinen Füßen zu lösen und ihn in Augenschein zu nehmen. Verflixt, wie kam dieses Utensil an meine Füße? Ein Leopardenstringtanga?!

Ich führte ihn zur Nase und … klares Urteil: getragen!

Er roch eindeutig nach … Zwiebeln? Gebratene Zwiebeln?!

 

Doch noch während ich versuchte, dieser völlig unerwarteten Sinneswahrnehmung auf den Grund zu gehen, riss mich jemand von der Stahlplatte, und ich erkannte den Riesen Rübezahl, der sich über mich beugte. Böse funkelten mich seine Augen aus kürzester Entfernung an und seine Stimme klang wie Glockengedröhn in meinen Ohren. Alle Laute verschwammen ineinander, sodass ich kein Wort verstehen konnte. Als ich den Arm zu heben versuchte, um seinem Gesicht, das direkt vor meinem schwebte, zu entkommen, musste ich mit Entsetzen registrieren, dass es nur unendlich langsam vonstattenging.

 

Mit Schwung warf der Riese mich über seine Schulter und hastete los. Was hatte er mit mir vor? Entsetzen durchflutete mich. Konnte mir denn niemand helfen?!?

„Lass ihn runter, du Tier!“

Unvermittelt stoppte Rübezahl und mein Kopf prallte gegen seinen breiten Rücken.

„Outadaway“, knurrte der riesenhafte Kerl mit tiefer Stimme. Sein breiter Brustkorb war ein ungeheurer Resonanzraum, und da mein Ohr an seinem Rücken lag, klang dieses Wort bedrohlicher als das Brummen eines Grizzlybären, der beim Fressen gestört wird. Und so ganz abwegig war diese Metapher vielleicht gar nicht.

„Wenn du uns nicht augenblicklich den Halven Hahn übergibst, werden wir dich zu Hundefutter verarbeiten und kostenlos an Not leidende Hundebesitzer verteilen.“

Die Stimme kam mir seltsam bekannt vor.

„Outadaway!“ Der bedrohliche Unterton hatte noch einen Zahn zugelegt.

„Bringst du Affe nichts anderes über die Lippen? Her mit dem Federvieh, sag ich!“

 

Trotz meiner misslichen Lage musste ich grinsen. Nichts Federvieh, ein „Halver Hahn“ war im Rheinischen ein Roggenbrötchen mit altem Gouda! Doch jetzt wusste ich endlich, wer sich da für mich einsetzte. Die Stimme gehörte zu Schneeweißchen und die zweite Person musste Rosenrot sein. Wo nahmen sie nur den Mut her, diesem wandelnden Gebirge aus Muskeln die Stirn zu bieten? Wenn er einmal fest pustete, flogen sie bis Pont à Mousson. Dafür brauchte er mich nicht mal abzulegen, was mir immerhin die Chance auf eine Flucht eröffnet hätte.

 

Wie sehr ich mich täuschte! Plötzlich strauchelte mein Träger und das Gebrüll, das er ausstieß, ließ mich erschaudern. Ein verletzter Löwe, der von einer Horde Hyänen angegriffen wird, kann nicht wütender fauchen. Aus den Augenwinkeln erkannte ich Rosenrot, die um den Hünen herumtänzelte, und dass Rübezahl jetzt in die Knie ging, war wohl Schneeweißchens Intervention zu verdanken.

Offensichtlich waren die beiden ausgebildete Nahkämpferinnen. Still beglückwünschte ich mich dazu.

Schon wankte der Riese, war angeschlagen. Wütend schlug er mit der freien Hand um sich, ohne allerdings eine der lästigen Mücken, die ihn umschwirrten, zu gefährden. Im Gegenteil, die Stiche, mit denen die beiden Biester ihn quälten, saßen passgenau, während die Stabilität seiner eigenen Stellung allmählich verloren ging. Trotzdem ließ er mich nicht los, sondern wirbelte um die eigene Achse, dass mir schwindelig wurde. Gerade sandte ich ein Stoßgebet gen Himmel, dass er beim unausweichlichen Fallen nicht auf mich stürzte, da geschah genau dies. Mit vollem Gewicht fiel er auf mich drauf und begrub mich unter sich. Die Luft ging mir aus, und erst als Rosenrots liebes Gesicht vor meinen Augen auftauchte und sie Rübezahl von mir herunterwälzte, kam ich wieder zu Atem. Mit unendlicher Erleichterung genoss ich die ersten Atemzüge und ließ es willenlos geschehen, dass mir die Maske abgenommen wurde. Vor meinen Retterinnen brauchte ich mich nicht zu verstecken, sie wussten ohnehin, mit wem sie es zu tun hatten.

 

„Gib mir fünf!“, forderte mich Schneeweißchen auf, und als ich versuchte ihrer Aufforderung nachzukommen, konnte ich immer noch keinen Finger rühren.

„Hilfe! Hilfe!!!!!“, brach es aus mir heraus. Ein Glück, die Stimmbänder waren noch einigermaßen intakt.

„Was ist mit dir?“, fragten die beiden wie aus einem Mund. Doch obwohl ich antworten wollte, bekam ich nur ein weiteres gekrächztes „Hilfe!“ zustande.

„Bitte beruhigen Sie sich doch.“

Ich wollte mich aber nicht beruhigen! Und so bemühte ich mich um einen weiteren Hilferuf.

„Sie sind hier in Sicherheit, mein Herr. Niemand tut Ihnen etwas.“

 

Das war nicht Schneeweißchens Stimme. Und Rosenrots auch nicht. Und Rübezahls erst recht nicht, denn diese zärtlichen Untertöne brachte der nicht mal mit einer Dosis Helium in den Lungen zustande. Obwohl ich gedacht hatte, die Augen offen zu haben, machte ich sie in diesem Moment auf und …

Eine fremde Frau! Sie stand am Herd und brutzelte Zwiebeln in einer Pfanne. Wie kam sie hier her? Oder besser, wie kam ich in diese Wohnung?

„Mein Mann hat sie hierher gebracht“, beantwortete sie meine unausgesprochene Frage. Sie schaute zu mir her und lächelte mich an. „Er hat sie ohnmächtig draußen auf der Straße gefunden, mit dieser scheußlichen Maske über dem Kopf.“

Ihre Stimme war so zuckersüß, ihr Lächeln so betörend, dass ich den starken Verdacht hegte, immer noch zu träumen. Aber gab es das überhaupt, einen Traum im Traum? Und wenn ich aus diesem aufwachte, wo landete ich dann? Im nächsten Traum? Woran sollte ich die Realität erkennen? Wenn es sie überhaupt noch gab …

 

 

© Marcel Porta, 2018

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