Von Beate Fischer

Guten Abend, Tante Clara. Ich muss mich erst einmal setzen. Mein Tag war die Hölle, ich bin fix und fertig.

Sei froh, dass du mit der Arbeitswelt da draußen nichts mehr zu tun hast. Das ist ein Hauen und Stechen, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Zu deiner Zeit hatte man sicher noch mehr Respekt vor der Arbeitskraft der Menschen. Ehrliche Arbeit wurde damals geschätzt. Heute wird man nur noch ausgebeutet, muss allzeit bereit und erreichbar sein.

Stell dir vor, was mir heute passiert ist: Mein Darm hat mir am Morgen wieder Probleme gemacht und ich musste mich eine Weile auf die Toilette zurückziehen. Da klingelt doch nach nicht einmal zehn Minuten mein Handy und mein Chef blafft mich an, ich solle gefälligst sofort an meinen Platz zurückkehren. Ich erkläre ihm die Sache, aber er besteht darauf. Kein Verständnis, nicht das kleinste Entgegenkommen. Mein Bauch rumort natürlich weiter, der lässt sich von so einem aufgeblasenen Lackel nichts anweisen und kurz vor dem Mittag geht tatsächlich was in die Hose. Das war mir so peinlich. Aber der feine Herr hat nur weitergemeckert und die Nase gerümpft. Er hat nicht gesagt: Gehen Sie doch nach Hause und ruhen Sie sich aus. Oder: Machen Sie doch eine Pause, vielleicht wird es später besser. Nein, er hat mir sogar noch eine weitere Obduktion aufs Auge gedrückt. Ich habe das Gefühl, er wartet nur darauf, dass ich einen Fehler mache, um mich loszuwerden. Aber da hat er sich geschnitten. Ich werde nicht aufgeben, das ist nicht meine Art.

 

Oh, warte mal, du hast da was im Auge. Ach, nur eine kleine Spinne. So, schon weg.

 

Die Leiche war wirklich ziemlich unansehnlich. Eigentlich waren es nur Stücke. Der untere Teil des Rumpfs mit einem Bein. Ein Fuß. Kopf, rechte Schulter, rechter Arm an einem Stück. Der Rest nur Kleinteile und Matsch. Ein richtiges Puzzle. Die Lok war in voller Fahrt. War aber kein Problem. Es gab verlässliche Zeugen und keinen Hinweis auf Fremdeinwirkung. Auch kein Alkohol und keine Drogen im Blut. Häkchen dran und weiter geht’s.

 

Trotzdem kannst du sicher verstehen, dass ich heute keinen Nerv für eine Gute-Nacht-Geschichte mit Happy End habe. Die Welt und alle Menschen, die sie bevölkern scheint verrückt geworden zu sein. Völlig unzurechnungsfähig. Da streiten sich Politiker darum, wie unsere Grenzen dicht gemacht werden sollen, während vor allem in Afrika und Asien fast siebzig Millionen Menschen auf der Flucht sind. Und die meisten kommen gar nicht zu uns. Sie wollen gar nicht hierher, sie wollen nur ein friedliches Zuhause. Den wenigen, die hier Schutz suchen, sollten wir ihn gewähren. Wir haben doch genug. Aber ich rede auch nur darüber und tue nichts. Vielleicht sollte ich im Dach noch zwei Zimmer ausbauen und ein paar Syrer oder Leute aus dem Südsudan aufnehmen. Denen geht es richtig dreckig.

Das wäre wirklich eine Idee. Darüber muss ich nachdenken. Es wäre gut, wenn auch tagsüber noch jemand im Haus ist.

 

Ach, nur zur Info für dich: Die Temperatur habe ich wieder ein wenig heruntergedreht, es riecht doch immer noch ein wenig streng hier. Du hast ja schon immer den Winter mehr gemocht als den Sommer.

 

Viel Zeit habe ich heute sowieso nicht. Simon wartet und wir müssen noch für eine Beerdigung proben. Du weißt schon: Der alten Frau Greiner geht es gar nicht gut. Da kann es jeden Moment soweit sein und unser Dirigent ist immer gerne gut vorbereitet. Sie hat ganz spezielle Wünsche, ziemlich ungewöhnliche für ihr Alter und den Anlass: „Hells Bells“ von ACDC und „Engel“ von Rammstein. Eine gewaltige Herausforderung für unseren Kirchenchor, aber sie ist nun Mal Ehrenmitglied, da muss man sich zusammenreißen. Übrigens geht es dem Organisten nicht besser: Von ihm möchte sie „Wiener Blut“ hören. Er übt jetzt schon Tag und Nacht und manchmal sieht er sie auf einer Kirchenbank sitzen und lauschen. Dabei weiß er doch, dass sie nur noch im Bett vor sich hin vegetiert.

 

Dein Haar hat sich auch ganz schön gelichtet. Ich nehme ein paar Büschel mit und packe sie in meine kleine Kiste mit den Andenken. Die ist schon gut gefüllt: Papas Nasenbein, Mamas Ringfinger – mit dem Ehering, Tante Käthes Goldzahn, Simons Hoden, meine winzige Fehlgeburt. Etwas weiches zum Auspolstern kann ich gut gebrauchen.

 

Wie wäre es mit einem Gute-Nacht-Gedicht? Mir ist vorhin eins eingefallen, das zu meiner Stimmung passt:

 

an kahlen ästen
baumeln lose
blätter der
erinnerung

zugvögel
ziehn sich warm an
trudeln am himmel
verweigern die reise

ein eichhorn
verschlingt nebelschlieren
knabbert gucklöcher
für die abendsonne

kommst du mit
äpfel zerquetschen
birnen erwürgen
trauben klauen

bald erlöst uns der
nachtfrost
vom schweiße
unseres angesichts

 

Was hältst du davon? Zu depressiv? Vielleicht. Aber mir fällt nichts Lustiges ein. Ich bin einfach nicht in Stimmung. Immer nörgeln alle an mir herum. Ich hab das Gefühl, dass ich auch dir nichts Recht machen kann. Ein bisschen Dankbarkeit kann ich doch erwarten, findest du nicht? Schließlich bin ich die einzige, die sich um dich kümmert. Seit einem Jahr.

 

Bitte entschuldige. Ich bin dir nicht böse. Mein Leben ist zur Zeit nur ziemlich anstrengend. Mit dir im Keller und jetzt auch noch Simon, dem Stress bei der Arbeit und diesem ständigen Durchfall.

 

Ich muss noch kurz nach nebenan, Simon besuchen. Es hat auch ganz schön abgekühlt. Hoffentlich hole ich mir keine Erkältung.

 

Gute Nacht, Tante Clara. Den Bewegungsmelder schalte ich wieder an. Er sendet den kleinsten Mucks auf mein Handy. Wir wollen ja nicht, dass sich wieder eine Mäusefamilie in deiner Bauchhöhle einnistet.