Von Uta Lemke

~ Wie kannst du dich jemals sicher fühlen, wenn nicht einmal deine eigenen Träume dir Sicherheit bieten können? ~

„Gute Nacht.“ Ihre Worte klingen noch in meinem Kopf nach, als ich mit zittrigen Fingern die Türklinke berühre um vorsichtig die knarzige Haustür zu schließen. Ich würde sie ja mit einem lauten Knall zuschmeißen, ihr am besten noch einen Tritt verpassen, damit sie merken, wie wütend ich bin. Aber nicht heute. Heute ist es endgültig. Heute will ich keine besorgten Gesichter sehen, heute sollen sie nicht angerannt kommen und mich festhalten, damit ich hierbleibe. Heute lasse ich mich nicht aufhalten.

Gute Nacht, wenn sie nur wüsste… Ich hatte nie eine gute Nacht in diesem Haus. Angst, wohin ich auch blicke. Nichts kann mich davor beschützen. Ich muss weg.
Hastig hetze ich die Straße entlang und dann, als ich mir sicher bin, dass mich niemand beachtet, beginne ich zu rennen.

Der Regen prasselt auf meine Haut, durchsticht sie wie mit Nadelspitzen. Ich renne schneller. Sie dürfen mich nicht wieder erwischen. Nicht diese Nacht. Ich will frei sein. Kurz halte ich inne. Ich stehe auf einer einsamen Wiese, die Häuser habe ich längst hinter mir gelassen. Vor mir der finstere Wald. Wie oft sie mir gesagt haben, ich darf da nicht hineingehen. Böses lungert dort. Aber das Böse ist auch an dem Ort, den andere Leute mal als mein Zuhause bezeichnet haben. Viel subtiler, viel gefährlicher, viel gemeiner als hier in der Wildnis.

Ich atme kurz durch, atme die Luft der Freiheit. So sollte es sich doch anfühlen. Nach Freiheit. Wenn ich rieche, dann sollte es befreit riechen. Der Druck von meiner Brust sollte weichen und ich sollte endlich zum ersten Mal in meinem Leben frei atmen können. Eigentlich. Aber Freiheit ist nur ein hohles Wort und stattdessen fühle ich nur eine große, schmerzende Leere. Und auf meinem Gesicht vermischen sich Tränen mit Regentropfen.
Was soll’s, ich muss weiter, so oder so. Kein Platz für Sentimentalitäten.
Ich überquere die weite Wiese und betrete zum ersten Mal in meinem Leben den Wald. Es riecht merkwürdig, das ist das erste, was mir auffällt. Ich fühle mich so seltsam beobachtet. Ich bin nicht alleine. Panik kommt auf. Ich drehe mich um. Mein Blick geht nach links, nach rechts, nach hinten, nach vorne, nach oben, nach unten, wieder nach links, nach vorne, nach rechts. Ich sehe nichts. Beruhigt atme ich durch und gehe weiter. Langsam und immer noch von Zeit zu Zeit in alle Richtungen guckend. Aber meine Atmung beruhigt sich wieder. Ich bin sicherer als je zuvor, rede ich mir ein. Hier können sie mich nicht finden. Hier werden sie mich nicht finden. Weil sie diesen Wald niemals betreten werden. Sie haben Angst, Angst, die noch größer ist als meine. „Berechtigterweise“, sagt eine leise Stimme in meinem Kopf, aber ich bringe sie zum Schweigen. Das hier ist nicht der richtige Zeitpunkt, um es sich anders zu überlegen.

Doch dann höre ich es. Ein Heulen, wenige hundert Meter von mir entfernt. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Ich kenne dieses Geräusch. Davor haben sie mich gewarnt. Immer, wenn ich vor diesem Wald stand und dieses Heulen gehört habe, haben sie gesagt: … Ach egal. Für sowas habe ich jetzt keine Zeit. Es sind Wölfe. Echte, lebendige Wölfe. Und sie klingen hungrig. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, spüre ich, wie meine Beine ganz von alleine zu rennen beginnen. Ich renne um mein Leben. Mein Herz pocht und pocht und mein Atem wird immer schneller, immer lauter und ich renne. Schneller als je zuvor in meinem Leben. Schneller, als ich jemals vor ihnen weggerannt bin. Und die Angst, die jetzt jede Zelle meines Körpers einnimmt, ist stärker als alles, was ich je gefühlt habe. Meine Beine rennen und rennen. Das Heulen wird lauter und lauter. Und mit einem Mal kommt die Gewissheit.

Es ist vorbei. Ich gebe noch nicht auf, ich renne weiter, doch etwas sagt mir, dass es dieses Mal keine Rettung für mich gibt. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob ich nicht lieber dageblieben wäre. Aber der Gedanke ist schnell wieder verworfen. Nichts ist schlimmer, als die Hölle, die mich jeden Tag erwarten würde, wäre ich nicht davongerannt. Lieber sterbe ich hier.
Und während das Heulen immer lauter wird, wird mein Kampfgeist immer schwächer. Aber meine Beine wollen nicht aufgeben und mein Körper gibt weiter sein bestes. Aber ich passe nicht auf und meine Füße verfangen sich in einer Baumwurzel, wie klischeehaft ist das eigentlich…

Dann passiert alles wie in Zeitlupe, ich falle und falle und falle und mein Körper schlägt auf dem weichen Waldboden auf. Ich will mich aufrappeln, will ein letztes Mal um mein Leben rennen, die Angst zwingt mich dazu, ich schaffe es fast, aufzustehen und weiterzurennen, aber dann merke ich, dass das Heulen aufgehört hat. Und als ich meinen Kopf vorsichtig hebe, spüre ich einen heißen, feuchten Atem und sehe den Wolf. Er kommt näher und näher und ich spüre einen unheimlichen Schmerz, dann wird alles schwarz.

Mit einem Schrei fahre ich auf. Ich bin in einem Bett. Ein allzu bekanntes Bett. Alles nur ein Traum. Ich sollte wohl erleichtert sein. Für einen kurzen Moment bin ich das auch, die Angst vor dem Tod ist zu groß. Aber eigentlich ist das nicht mein größter Albtraum. Die schlimmsten Albträume sind immer noch die, die ich mitten am Tag und mit offenen Augen erlebe.

Und während ich noch diese unheimliche Enttäuschung spüre und mir die Tränen in die Augen schießen, höre ich es. Ein Heulen, was mir durch Mark und Bein geht. Und bevor ich weiter darüber nachdenken kann, bevor auch nur eine einzige leise Stimme der Vernunft durch meine Nervenbahnen zuckt, handelt mein Körper ganz von alleine und ich renne zum Fenster und reiße es auf und ich springe. Und das Fallen dauert Ewigkeiten. So fühlt sich Freiheit wirklich an, denke ich bevor der Aufprall mir das Bewusstsein raubt.