Von Vanessa Krust

Stirnrunzelnd betrachtete ich Elias. Mittlerweile waren wir schon so lange zusammen, dass ich ihn in und auswendig kannte. Aber dieser Mann, der da vor mir stand, hatte nichts mehr mit dem Elias gemein, den ich kannte und liebte. Er war nicht nur außer sich vor Wut, sondern auch noch betrunken. Sein sonst meist sanftmütiges Gesicht wurde von einer wutentbrannten Fratze entstellt und ich fragte mich unweigerlich, was ihn dazu brachte, so wütend zu sein. Irgendwo im tiefsten Inneren meines Gehirns war mir bewusst, dass ich der Grund für seine Wut war, und doch verstand ich nicht, weshalb. Oder aber mein Gehirn weigerte sich, die Tatsache anzuerkennen. Reiner Selbstschutz vermutlich. Auch, dass ich sein Geschrei nur gedämpft wahrnahm und nicht in der Lage war, die Wörter, die er mir an den Kopf knallte, zu verstehen. Ich starrte ihn bloß an, verwirrt, weil ich nicht wusste, wie ich mit dieser Situation umzugehen hatte. Sie war neu. Ich hatte ihn noch nie so außer sich erlebt.
Mein scheinbares Desinteresse provozierte ihn allerdings nur weiter. Er kam einen Schritt auf mich zu und ich wich automatisch einen Schritt zurück. Fest und ohne eine Spur von Rücksicht packte er mich am Oberarm und hielt mich damit davon ab, mich weiter von ihm zu entfernen.
„Sprich endlich mit mir, Weib!“ schrie er mich an und packte auch meinen anderen Arm, bevor er mich grob schüttelte.
„Wo bist du verdammt nochmal gewesen? Wieso bist du nicht pünktlich zu diesem scheiß Abendessen erschienen? Weißt du, wie ich vor meinen Kollegen dastand? Alle müssen mich jetzt für einen armseligen Schlucker halten, der nicht in der Lage dazu ist, sein Weibsbild zu kontrollieren!“
Seine Worte machten wenig Sinn. Zumindest verstand ich nicht, wie ihn meine harmlose Verspätung so aufregen konnte.

Vorhin, im Restaurant, da war noch alles gut gewesen. Er hatte mich freudestrahlend begrüßt, mir einen Kuss gegeben und mich besitzergreifend an seine Seite gezogen. Selbstverständlich hatte ich mich höflichst für meine Verspätung entschuldigt, die nicht beabsichtigt gewesen war. Im Laufe des Abends hatte Elias dann einen Gin Tonic nach dem anderen getrunken und irgendwann war die Stimmung gekippt. Ohne eine Miene zu verziehen war er aufgestanden, hatte verkündet, dass es für uns Zeit war, nach Hause zu gehen. Seine Kollegen hatten schlüpfrige Kommentare abgegeben, auf die er nicht reagiert hatte und die ich gekonnt ignorierte, da ich bereits gespürt hatte, dass etwas nicht stimmte. Schweigend waren wir mit einem Taxi zu unserer Wohnung gefahren. Kaum hatten wir die Haustür hinter uns verschlossen, hatte sein Wutausbruch begonnen. Er hatte mich angeschrien, mir unzusammenhängende Vorwürfe gemacht und mich schließlich unsanft, beinahe brutal, angefasst.
Und nun stand ich hier und war unfähig, zu reagieren.
„Antworte endlich, Weib!“ brüllte er und die Ader an seiner Stirn pochte verdächtig. Auch sein Gesicht hatte einen ungesunden Farbton angenommen, der mich an eine Warnleuchte auf einer Baustelle erinnerte.

Ich schluckte. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, um ihn zu beruhigen. Jedes Wort, dass ich zu meiner Verteidigung vorzubringen hatte, würde ihn nur noch mehr in seiner Wut anstacheln. Meine ehrenamtliche Tätigkeit im Kinderheim war ihm schon seit jeher ein Dorn im Auge. Würde ich ihm erzählen, dass ich dort bei den Kindern die Zeit vergessen hatte, würde er im schlimmsten Fall komplett die Fassung verlieren. Also schwieg ich weiter.
Elias jedoch schubste mich brutal von sich weg, sodass ich über unser Schuhregal stolperte und schmerzhaft auf dem Fußboden landete. Er schien dies aber gar nicht zu registrieren. Wutschnaubend starrte er mich an und für einen Augenblick stand die Welt still. Ich sah ihn, meinen wunderschönen, geliebten Freund und gleichzeitig war das der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich ihn verloren hatte. Er war nicht mehr er selbst.

Dann fing die Welt an, sich weiter zu drehen, schneller als zu vor. Ich wusste gar nicht wie mir geschah, schon flog mein Kopf zur Seite und ich spürte einen stechenden Schmerz in meiner rechten Gesichtshälfte. Entsetzt schnappte ich nach Luft, als sich schon die ersten Tränen einen Weg über meine Wangen bahnten. Weinend wie ein kleines Kind kauerte ich mich auf dem Fußboden zusammen, zitterte am ganzen Körper und wartete auf das, was folgen würde. Ich stellte mich auf erneuten Schmerz ein, aber nichts geschah. Vorsichtig sah ich zu Elias auf, der zwischen seiner zur Faust geballten Hand und mir hin und her sah, als ob er es jetzt begriff, was er getan hatte. Der Blick seiner braunen Augen traf den der meinen und ich konnte all das Entsetzen in ihnen lesen, was ich selbst verspürte.
„Baby… ich… ich kann dir nicht erklären… ich weiß nicht was in mich gefahren ist…“ wisperte er leise. Ich beobachtete, wie aus dem Entsetzen in seinem Blick Verzweiflung und dann unendliche Trauer wurde. Aus einer einzelnen Träne auf seiner Wange wurde eine Sintflut und schließlich brach mein starker, selbstsicherer Freund vor mir zusammen. Er weinte, schluchzte, raufte sich die Haare und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Es brach mir das Herz, ihn so zu sehen. Ohne einen weiteren Gedanken an das soeben passierte zu verschwenden krabbelte ich über den Flur zu ihm hin und überwand die Distanz zwischen uns, indem ich ihn in meine Arme und auf meinen Schoß zog. Vorsichtig streichelte ich ihm über den Rücken, der von Schluchzern der Verzweiflung geschüttelt wurde.
„Ssshh, alles wird gut, alles wird gut.“ Murmelte ich ihm beruhigend zu, auch wenn ich mir dessen selber nicht sicher war. Viel zu deutlich spürte ich den Schmerz in meinem Gesicht, das stete Pochen, dass mich an das erinnerte, was Elias mir angetan hatte. Und doch konnte ich nicht wütend auf ihn sein. Ich kannte ihn bereits so lange, hatte so viel mit ihm erlebt. Ich konnte mich noch an unser erstes Treffen erinnern, als ob es erst gestern gewesen wäre, dabei war es schon über 10 Jahre her. An den jungen Mann in dem langen, eleganten schwarzen Mantel und an seine tiefbraunen Augen, die so eine Wärme ausgestrahlt haben, dass ich ihm auf den ersten Blick verfallen war. Seitdem waren wir unzertrennlich gewesen. Hatten zusammen gelacht, geweint und waren durch dick und dünn gegangen. Unser erster Kuss, unsere erste gemeinsame Nacht, unser erster Urlaub, unsere erste Wohnung … ich war davon ausgegangen, dass ich ihn eines Tages heiraten würde! Und nun saß ich hier und meine gesamte Welt war aus den Fugen geraten.
Mein Elias. Er war tatsächlich handgreiflich geworden.

Ich hielt ihn weiter im Arm, schaukelte beruhigend vor und zurück und war tief in meinen eigenen Gedanken versunken. Nach und nach wurde sein Schluchzen leiser, seine Atmung ruhiger, bis er sich schließlich aus meiner Umarmung löste. Nur widerwillig ließ ich es zu, hieß das doch, dass wir uns mit dem soeben passierten auseinandersetzen mussten.
„Feli?“ fragte er leise, vorsichtig. Ich erwiderte nur ein Nicken, hatte zu sehr Angst, meine Stimme würde brechen, würde ich ihm antworten.
„Ich… es tut mir leid. Bitte, du musst mir das glauben. Es war ein Versehen. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich liebe dich doch!“ beteuerte er und ich glaubte ihm sogar.
„Ich verspreche dir hoch und heilig, es wird nie wieder passieren!“ fügte er dann noch hinzu. Jetzt sah ich ihn doch an. In seinen Augen schimmerten immer noch die Tränen feucht und ich konnte erkennen, dass er es wirklich bereute. Also beschloss ich, ihm auch das zu glauben.
„Ich verzeihe dir. Sprechen wir nicht mehr darüber, okay?“ gab ich mit zitternder Stimme von mir. Erleichtert atmete er auf und zog mich in seine Arme.
„Okay.“

In dieser Nacht schlief ich nur schlecht. Der Schmerz in meinem Gesicht und die Gedanken an das, was geschehen war, hielten mich wach. Und auch die darauffolgenden Tage fand ich keine Ruhe. Elias war wie ausgewechselt, kümmerte sich liebevoll um mich und doch konnte ich mein schlechtes Gefühl einfach nicht abschütteln. Ich war ständig auf der Hut, analysierte jede seiner Worte und Gefühlsregungen bis ins kleinste Detail, um im Notfall vorbereitet zu sein, falls er wieder ausflippte. Auch versuchte ich nichts zu tun, was ihn aufregen könnte.

Die Tage vergingen, langsam kehrte wieder Normalität ein und ich konnte aufatmen. Sein Wutausbruch schien wirklich nur ein Ausrutscher gewesen zu sein. Ich war dankbar dafür und beschloss, das Geschehene hinter mir zu lassen. Allerdings hatte ich mich zu früh gefreut. Elias war mal wieder mit seinen Kollegen zum Billard spielen verabredet und ich hatte es mir auf der Couch gemütlich gemacht und sah einen Film. Ein Poltern an der Haustür machte mich darauf aufmerksam, dass ich nicht länger alleine war. Kurz dachte ich an einen Einbrecher, erkannte dann aber Elias an seinem genervten Gemurmel. Sofort schrillten sämtliche Alarmglocken in mir. Ich versuchte, mich zu beruhigen, sagte mir, dass ich mich garantiert täuschte und dass er sich gleich gemütlich zu mir aufs Sofa kuscheln würde.
Zu meinem Leidwesen täuschte ich mich nicht.
Elias kam ins Wohnzimmer gestürmt, den gleichen wutverzerrten Ausdruck auf dem Gesicht wie vor ein paar Tagen.
„Felicitias!“ brüllte er. „Bist du nicht mal in der Lage, in dieser winzigen Wohnung Ordnung zu halten? Was kannst du überhaupt?“
Mit langsamen Schritten kam er näher und ich wusste, was nun folgen würde. Ich versuchte nicht einmal, ihm zu widersprechen oder mich vor ihm zu verstecken. Ohne einen Laut von mir zu geben, ertrug ich seinen Wutausbruch und den Schmerz, den er mit sich brachte.
Denn was sollte ich schon tun? Wie sollte man sich gegen jemanden wehren, den man über alles liebte?
Es war ein Alptraum, aus dem ich nicht in der Lage war, zu erwachen. Denn er war die bittere Realität.