Von Eva Fischer

Vierstöckige Wohnhäuser säumen die schnurgerade Straße. Ihre schmucklosen Fassaden sind in ein seltsames Kupferrot getaucht, das von innen leuchtet. Der Himmel ist grau und wolkenverhangen. Es herrscht eine ungewöhnliche Stille. Kein Auto belebt die asphaltierte Straße. Kein Blatt bewegt sich. Kein Vogelgezwitscher in den Bäumen.

Warum hat sie das Gefühl, dass sie unsichtbare Augen durch die blind gewordenen Fensterscheiben beobachten? Eilig geht sie weiter. Teils angstvoll, teils hoffnungsvoll schaut sie auf die geschlossenen Haustüren.

Plötzlich taucht ein Tunnel vor ihr auf. Ihre Augen suchen vergebens nach einer kreuzenden Straße, nach einem Ausweg. Umkehren will sie um keinen Preis. Ist Licht am Ende des Tunnels? Sie versucht ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, aber da ist nur undurchdringliches Schwarz, das Gurgeln von Wasser, sowie der Geruch von Moder und Schimmel. Ein merkwürdiges lurchartiges Tier huscht an ihr vorbei.

Auf einmal packt sie eine männliche Hand, fest und schmerzhaft. Sie schaut in ein diabolisch grinsendes Gesicht.

 

Marlene wacht von ihrem eigenen Schrei auf. Es ist stockdunkel. Der Wind schlägt heulend gegen die Fensterläden. Erst nach einer Weile registriert sie, wo sie ist. In einem Ferienhaus an der Nordsee. Sie macht die Nachttischlampe an, steht auf und holt sich ein Glas Wasser aus der Küche. Warum musste sie auch abends noch Matjes essen? Die Dielen knarren unter ihren Füßen. Max begleitet sie mit eingekniffenem Schwanz. „Du bist mir ein Held!“, stellt sie fest und streicht ihrem Dackel beschwichtigend über das Fell.

 

Tagsüber sieht so eine alte Kate romantisch aus, aber nachts ist das doch eine ganz andere Nummer, denkt sie, während sie das Wasser trinkt. Dabei hatte sie sich als Glückskind gefühlt, als sie dieses Ferienhäuschen im Internet für drei Tage angeboten bekam. Wer vermietet schon für so kurze Zeit? Einen Vermieter hat sie nicht zu  Gesicht bekommen. Der Schlüssel lag in einem Umschlag an dem beschriebenen Ort unter einem Blumentopf. Das klassische Versteck. Aber was gibt es hier schon zu stehlen? Alles ist einfach und zweckmäßig eingerichtet. Das Meer ist nicht weit weg und die nächsten Häuser außer Sichtweite, was ihr beides als Vorteil erschien.

Seufzend legt sie sich wieder ins Bett. Morgen wird die Welt wieder anders aussehen und die Kate bekommt sicherlich ihren ursprünglichen Charme zurück.

 

Wie lange sie geschlafen hat, weiß sie nicht, als sie das Knurren ihres Hundes weckt, das in ein wütendes Bellen übergeht.

„Max! Sei still!“, beschwichtigt sie ihn, aber das Tier bellt sich immer mehr in Rage, so dass sie schließlich den Schalter der Nachttischlampe betätigt.

 

Sie traut ihren Augen nicht. Vor ihrem Bett steht ein Mann. Marlene hofft, dass es sich nur um einen schlechten Traum handelt.

„Bring deinen Köter zur Raison, sonst mache ich es“, ranzt sie eine Stimme durchaus real an.

Sie fordert Max auf, zu ihr ins Bett zu kommen.

„Ruhig, mein Lieber!“, sagt sie und versucht ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen, während sie das Tier streichelt.

„Ist für mich auch noch ein Plätzchen frei in deinem Bettchen“, fragt der Eindringling spöttisch.

„Horst! Du? Was machst du hier? Wie bist du hier hereingekommen?“

Adrenalin pulsiert durch ihre Adern. Jetzt nur nicht den Kopf verlieren! Sich nicht ins Bockshorn jagen lassen! Sie will ihn so schnell wie möglich wieder loswerden. 

„Madame hat vergessen, die Tür abzuschließen.“

Seine Stimme, einst vertraut, klingt jetzt fremd und feindlich in ihren Ohren.

 

„Was willst du von mir? Ich dachte, wir hätten alles geklärt“, sagt sie in betont ruhigem Ton.

Du hast alles geklärt. Ich wurde einfach abserviert. Und das nach all den Jahren! Hast du wirklich geglaubt, ich lasse mir das gefallen? Einfach abgehauen bist du! Untergetaucht! Hast wohl gedacht, ich finde dich nicht.“

Wieder dieses zynische Grinsen.

„Madame hat jetzt einen eigenen Buchladen. Wie nobel! Sogar die Presse hat davon Kenntnis genommen.  Es gab einen Artikel über dich und deinen berühmten französischen Autor!“

Verächtlich spuckt er die Worte aus wie einen geschmacklos gewordenen Kaugummi.

„Na ja, und dass du verrückt nach dem Meer und diesem Ort bist, ist kein Geheimnis. Schließlich hast du mich auch schon mal hierhergeschleift.“

Klingt etwa Nostalgie aus seinen Worten?

„Tja, meine Liebe, jeder Mensch hinterlässt Spuren, denen man nur zu folgen braucht. So einfach ist das“, trumpft er auf.

 

Er ist ein Stalker, ein gottverdammter, krankhafter Stalker, denkt Marlene entsetzt. Er kann mich um den ganzen Globus hetzen wie ein Kaninchen. Wie werde ich ihn jemals wieder los?

 

Drei Jahre hat sie mit ihm unter einem Dach gelebt. Bis heute weiß sie nicht, warum sie sich auf ihn eingelassen hat. Er war einfach da, als sie sich einsam fühlte, lautlos wie eine Raubkatze schon damals. Ansonsten war er nicht weiter auffällig. Am liebsten hatte er sie ganz für sich. Sie traf ihre Freundinnen nicht mehr, selten gingen sie mit Freunden aus. Er war stets ausgesprochen liebenswürdig zu ihr, fast zu liebenswürdig. Aber sie spürte, dass sie keinerlei Leidenschaft mit ihm verband, nur Dankbarkeitsgefühl. Als sie die Million gewann, war es die Gelegenheit, sich endlich von ihm zu lösen. Sie war einfach abgehauen, da hatte er recht, aber sie spürte schon damals instinktiv, dass sie ihn anders nicht loswerden konnte.

 

„Marlene, wir hatten doch eine schöne Zeit zusammen. Wir waren das perfekte Paar. So etwas gibt man doch nicht auf. Ich liebe dich,“ hört sie ihn schmeicheln.

 

Und bedeutet das, dass du mich automatisch besitzen darfst? Heißt Liebe nicht auch, dem anderen seine Freiheit zu lassen, ihn zu respektieren? Aber das kann sie nicht laut aussprechen. Solche Worte erreichen ihn nicht. Er wusste stets besser, was gut für mich war.

Gott und Teufel in einem.

Fieberhaft arbeitet ihr Gehirn an einer Lösung des Problems.

 

 „Ach Horst, das kommt jetzt etwas überraschend für mich“, hört sie sich zuckersüß sagen.  „Was hältst du davon, wenn wir uns morgen um 9 Uhr zum Frühstück im Café ‚Zur Heide’ treffen. Lass uns erst mal eine Nacht darüber schlafen. Weglaufen kann ich dir nicht mehr. Du hast ja meine Adresse.“

Sie zwingt sich zu einem charmanten Lächeln.

„Lindenstraße 27!“, mahnt er. Sie spürt, wie sich ihre Kehle zuschnürt.

Doch er lässt sich auf ihren Deal ein. Nach kurzem Zögern stimmt er zu:„Ok, bis morgen, mein Schatz! Schlaf schön!“

Er drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Sie lässt es geschehen, gibt sich Mühe, ihren Ekel ihn nicht spüren zu lassen. Wenig später hört sie, wie die Tür ins Schloss fällt.

Sie geht hinterher und dreht den Schlüssel um. Hastig packt sie ihre Sachen in den Koffer, lauscht, ob sie irgendein Geräusch draußen hört. Leise öffnet sie die Tür und schleicht zum Auto. Jeden Augenblick fürchtet sie, dass er wieder vor ihr auftaucht und sie mit eisernem Griff an der Fahrt hindert. Aber er ist sich seiner Sache sicher. Sie kann ihm nicht mehr entwischen, höchstens einen kleinen Vorsprung ergattern.

 

Sie hat Schwierigkeiten, den Gang einzulegen. Ihre Hände zittern. Tränen laufen ihr über das Gesicht. Am liebsten wäre sie jetzt weit weg. Aber wohin? Außerdem liebt sie ihren kleinen Buchladen und das neue Leben, das sie sich aufgebaut hat.

„Du kriegst mich nicht!“, schreit sie wütend auf, während sie auf das Lenkrad trommelt, so dass Max erschrocken hochfährt. Dann konzentriert sie sich auf den Weg. Die Autobahn ist nachts um drei fast menschenleer. Ängstlich beobachtet sie jedes Auto, das sie überholt.

 

Am Horizont zeigen sich helle Streifen, als sie in die Lindenstraße einbiegt, wo sie ihr Auto parkt. Sie verriegelt die Haustür, lässt die Rollos runter, wirft sich in Kleidung auf ihr Bett, wo sie irgendwann vor Erschöpfung einschläft .

 

Es klingelt an der Haustür. Marlene fährt in erneuter Panik hoch. Mittlerweile ist es Mittagszeit zeigt ihr Digitalwecker an.

„Marlene! Ich bin’s Ulrich. Mach auf! Warum bist du schon zurück? Ist etwas passiert?“

 

Ist der böse Wolf zurück? Bittet er mit verstellter Stimme um Einlass? Wo kann sie sich verstecken?

Sonnenstrahlen kämpfen sich durch die Ritzen der Jalousien. Der Tag hat die Nacht besiegt.

Marlene steht auf und geht zur Tür.

 

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