Von Dagmar Droste

Der Vollmond warf einen kühlen Lichtstrahl durch den wolkenverhangenen Himmel. Aufstrebende Pappeln bildeten einen gespenstischen Schatten. Ein fahler Schein verwies auf einen kurzen, von mannshohen Büschen gesäumten Weg, der an einer Sitzbank endete. Aus der Ferne gellte der Ruf eines Kauzes. Der Wind peitschte Max den Regen ins Gesicht. Lautlos trug er die schwere Last. Er erreichte die Bank, legte Mitgebrachtes ab und öffnete die Gruft. Regenschwerer Boden. Sich gegen die heftigen Böen zu stemmen, erforderte seine gesamte Kraft. Behutsam beförderte er den Sack in das Grab. Plötzlich … Bewegung, Zucken. Erst schob sich zögernd der Kopf aus der Verpackung … mit einem Ruck, bedrohlich schnaubend, folgte der Körper.

 

Max rannte um sein Leben, verfolgt von einer unheimlichen Gestalt. Die Stadt ausgestorben, totenstill. Er erreichte sein Haus, stürzte in die Wohnung, schmiss die Tür hinter sich ins Schloss. In Sicherheit! Er tastete zum Lichtschalter … „Nein …“, schrie er und erwachte zitternd und schweißgebadet.

 

Es dauerte einen Vormittag, bis er sich von seinem Alptraum erholt hatte. Abends im Bett versuchte er, sich genauer an den Traum zu erinnern, und sinnierte darüber, wen er beerdigen wollte. Wer war ihm gefolgt? In der Dunkelheit hatte er niemanden erkennen können. Er fiel in einen unruhigen Schlaf …

 

Tumult in der Küche, Gerenne um den Esstisch. Nicht einer, nein, vier! Sie schlingerten auf Socken auf dem frisch gewachsten Fußboden, jagten ihn wieder und wieder um den Küchentisch. Er schwankte, konnte sich nicht mehr halten, rutschte aus, stürzte auf den Boden. Eine Gestalt näherte sich, beugte sich über ihn, heißer Atem streifte sein Gesicht. Die Arme zur Abwehr erhoben, drückte er sich mit den Füßen ab und glitt an die Wand. Zähnefletschend folgte ihm der Angreifer …

 

Max erwachte von seinem markerschütternden Schrei, panisch sprang er aus dem Bett, sein Herz raste. Aufgewühlt, unter dem Einfluss des Alptraums, schlich Max zur Küche, öffnete vorsichtig die Tür.

 

„Es kann sein, dass sie versteckt auf mich lauern“, murmelte er vor sich hin.

 

Da …, der Esstisch. Er lauschte. War da nicht ein Laut? Der Tisch musste weg! Er schob ihn schonmal zur Seite. Morgen würde er ihn entsorgen, dann wären sie chancenlos. Mit diesem Gedanken legte er sich nochmals schlafen.

 

Total gerädert entstieg er in der Früh seinem Bett. Wachsamer Blick in die Küche … nichts!

 

Gegen Mittag erschienen zwei Möbelpacker vom Sozialkaufhaus. „Sie haben angerufen, wir sollen einen Tisch abholen.“

 

„Ja, ja“, erwiderte Max.

 

„Der ist ja neu!“, stellten die Männer fest.

 

„Ich erbe eine Antiquität“, erklärte Max.

 

„Das ist klar eine Verbesserung.“ Sie schnappten sich den Tisch.

 

Max war erleichtert. Keine Chance mehr für die Ungeheuer! In dieser Nacht schlief er ausgezeichnet.

 

Argwöhnisch lugte er am nächsten Morgen durch die spaltbreit geöffnete Küchentür. Sind dort nicht doch Streifen auf dem Parkett? Waren sie heimlich hier?

 

„Sie lieben frisch gewachsten Fußboden, einen rauen Boden mögen sie nicht“, sprach er sich Mut zu und plante, ihnen ein Schnippchen zu schlagen.

 

Max kaufte Schmirgelpapier. Stück für Stück raute er das Parkett auf. Zufrieden betrachtete er sein Werk.

 

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kreisten seine Gedanken unaufhörlich um das Geschehen. Er besorgte sich rutschfeste Socken mit Noppen, damit er nicht ins Rutschen kam, wenn sie ihn im Dunkeln jagten …

 

Vollmond. Eiliges Rennen vom Friedhof durch die Stadt. Socken an und ins Haus. Angriffslustiger Tanz um Max‘ Bett! „Los, raus aus dem Bett“, knurrten sie ihn an und zerrten ihn rutschend mit in die Küche. Los ging‘s! Vier jagten ihn um den Küchentisch. Wo waren denn seine Noppensocken? …

 

Ein Knall erschütterte ihn. Desorientiert und bibbernd saß er auf dem Boden. Wie war er hierhin gekommen? Hatten sie ihn angegriffen, aus dem Bett gezerrt und seine Socken gestohlen? Er fühlte Blut aus der Stirnwunde.

 

Die Angst steigerte sich von Nacht zu Nacht und verließ ihn am Tag nicht. Wer waren die schlingernden Sockenträger? Was wollten sie von ihm? Wo hatten sie den Esstisch her? Er hatte ihn doch aus der Küche entfernt. Der Boden war aufgeraut, nichts zum Schlingern.

 

Max war durcheinander. Tag und Nacht, Realität und Traum vermochte er nicht zu unterscheiden. Die Gedanken zerflossen. Er gebärdete sich zunehmend hektischer. Aus jeder Küchenecke schauten ihn Augen an, die ihn lauernd betrachteten. Er fand keine Ruhe in der Wohnung.

 

Heftiges Herzklopfen, begleitet von Atemnot und einem unheimlichen Druck auf der Brust, trieb ihn schwindelig vor Angst aus dem Haus. Durch die Stadt zum Friedhof. Hatte er sie dort nicht begraben? „Da waren sie ausgebrochen“, erinnerte er.

 

 

„Junger Mann, geht es Ihnen nicht gut“, sprach ihn ein grauhaariger Herr an.

 

„Ich, ich …, werde verfolgt“, äußerte Max mit zittriger Stimme und schaute gepeinigt hinter sich.

 

„Wer verfolgt Sie?“

 

„Ich weiß nicht, sie tragen Socken und jagen mich auf dem frisch gewachsten Boden um den Küchentisch.“ Seine Stimme drohte zu versagen, sein Atem ging schwer, unkoordiniert gestikulierte er mit den Händen.

 

„Beruhigen Sie sich“, lächelte der Grauhaarige und legte ihm tröstend den Arm auf die Schulter.

 

„Wölfe! Sie werden von Wölfen gejagt“, stellte er fest.

 

„Wer kennt das nicht? Sie leiden unter Luposlipaphobie.“

 

„Ist das heilbar?“, fragte Max aufgewühlt.

 

„Aber ja, sorgen Sie sich nicht. Entfernen Sie den Küchentisch, schmirgeln sie ihren Küchenboden ab und kaufen Sie sich Socken mit Noppen …“

 

„Nein“, schrie Max, „nein, nein, nein!“

 

In einem winzigen Moment der Klarheit fasste Max den Entschluss, einen Therapeuten aufzusuchen.

 

 

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