Von Miklos Muhi
Klaus liegt schon im Bett und wartet auf seine Mutter. Sie liest ihm abends immer etwas vor. Sie kommt normalerweise um halb zehn mit einem Buch. Früher gab es eine Gute-Nacht-Geschichte, heutzutage wird nur abgefragt, ob alles in Ordnung sei und Gute Nacht gewünscht, danach wird geschlafen. Das heißt, dass Klaus bis zum nächsten Morgen nicht aus seinem Zimmer darf, es sei denn, er muss auf die Toilette oder er wird von seinen Eltern in der Früh geweckt.
Sie kommt erst acht Minuten nach halb zehn. In der letzten Zeit ist das zur Normalität geworden. Er liegt immer pünktlich, geduscht und mit frisch geputzten Zähnen im Bett, aber seine Mutter kommt noch nicht und selbst wenn sie kommt, ist das Ganze für sie nur ein Provisorium. Er versucht, so schnell wie möglich müde zu werden und einzuschlafen. Es funktioniert auch diesmal. Er wird schläfrig.
Am Grenzübergang zum Traumland fehlt nur noch ein Schritt, als er wieder durch seinen Hörsinn brutal zurückgerissen wird. Ein Schrei, ein Babyschrei zerreißt die Stille und lässt seinen Puls in die Höhe schnellen. Nur ein Schrei, der Traum ist dahin und die Grenze zum Traumland bleibt vorerst geschlossen.
Er lässt sich nichts anmerken, er bleibt liegen, als würde er schlafen, obwohl er genau weiß, dass er das vorerst bestimmt nicht tun wird. Seine Mutter nimmt das Babyfone aus ihrer Tasche, stellt es ab und verlässt das Zimmer. Das Licht geht aus und die Tür sanft zu.
Sobald die Schritte seiner Mutter in der Weite verstummen, öffnet Klaus seine Augen. Er ist allein, wie immer. Er ist es selbst dann, wenn andere Menschen ihn umgeben. Viel Müll wird in diese Einsamkeit gekippt, zusammen mit der Aufgabe, diesen Müll fachgerecht zu entsorgen.
Er will das nicht, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, denn niemand hört auf ihn. Er wird ohne Wissen, aber mit bestem Gewissen jeden Tag aufs Neue gequält und alle glauben, dass dieses Quälen ein Spaß für ihn sei, wie es gehört. Klaus spielt mit, weil man immer nett und diszipliniert sein muss. Seine Eltern sagen das immer wieder.
Klaus musste sich schon anhören, wie Kinder von den eigenen Eltern aus angeblicher Not im Wald ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen wurden. Wir sind arm, wir haben nichts, aber wir wollen Kinder und wenn die Kinder da sind, dann merken wir erst, wie arm wir sind. Dann sind die Kinder nur Tierfutter und müssen diszipliniert sein, genau so wie Klaus.
Oder man schickt das Kind mit einem Korb voller Essen zur Oma in den Wald, wo es dunkel ist und allerlei Gefahren lauern. Mutter und Vater gehen nicht selbst zur Oma, um ihr das Essen zu bringen, nein, das Kind, das Mädchen muss es tun. Es gibt nur gute Ratschläge, aber keine Hilfe. Alles geht aber gut, zumindest für den Wolf, der alle auffressen darf.
Manchmal müssen Kinder auch arbeiten, vor allen Waisenkinder, denn die Welt interessiert sich nicht für solche Subjekte. Sie müssen ihren Unterhalt selbst verdienen und auch an Weihnachten arbeiten. Weihnachten ist gelogen. Klaus weiß auch, dass die ganze Nikolaus-Geschichte gelogen ist, und sieht auch, dass alles andere, was mit Weihnachten zu tun hat, ebenso gelogen ist. Das Mädchen muss wertlose Ware verkaufen, aber wer soll von ihr etwas kaufen, denn es ist ja Weihnachten. Alle haben ihr geliehenes Geld schon für wertloses Zeug ausgegeben und sitzen zu Hause und futtern sich mit allerlei fettigem und zuckrigem Essen krank. Das kleine Mädchen hatte nie eine Chance. Es ist ja Weihnachten, der Fest der Lüge.
Manchmal sind auch Geschwister gefährlich. Dann muss man die Drecksarbeit (oder die Arbeit im Allgemeinen) alleine machen. Die Geschwister arbeiten nicht, denn sie ist ja ein Mädchen, er ist noch zu klein, du bist ja der große Bruder und ähnlicher Schwachsinn. Dann kommt man nie zu etwas, keine Bälle, kein Ausgang und keine Ruhe, es sei denn, man wird gerettet. Dann kommt der Prinz auf dem weißen Pferd, aber nur für die Mädchen und nur in den Märchen. Für Jungs bleiben die Pferdeäpfel, die sie aufräumen müssen, wenn der diensthabende Prinz schon über alle Berge ist.
Alle spielen in diesem blöden Schauspiel mit und niemand sieht, was läuft. Der Kaiser ist nackt und die Hochstapler, die monatelang das Nichts gewebt, geschneidert und genäht haben, sind reich. Niemand wagt es auszusprechen, zumindest niemand, der schon angepasst ist und sich benehmen kann. Dennoch ist der Kaiser nackt und das Geld aus der Schatzkammer wurde buchstäblich für nichts ausgegeben und alle müssen deswegen auch noch jubeln.
Schließlich kommt ihm eine rettende Idee. Diese Idee lauert in seinem Unterbewusstsein schon seit Wochen und nun ist es an der Zeit, dass sie an die Oberfläche kommt. Klaus weiß jetzt, was er zu tun hat. Er muss standhaft bleiben, egal was passiert. Es ist schon viele passiert und er hat so einiges erdulden müssen und er ist bisher standhaft geblieben. Auf diesem Weg muss er weitergehen, egal, wohin dieser Weg führt. Man kämpft mit den Ratten in der Kanalisation, reist im Bauch eines Fisches und kommt zurück, nur um verbrannt und eingeschmolzen zu werden? Nein, das darf nicht passieren. Genug ist genug und Klaus muss jetzt seine Standhaftigkeit in die Tat umsetzen.
Während er in seinem Bett mit seinen brodelnden Gedanken beschäftigt war, die Stille der Nacht kam ins Haus an. Seine Eltern schlafen schon, genauso wie sein kleiner Bruder. Klaus steht auf und verlässt leise das Zimmer. Er weiß genau, welche Bodendielen knarren und welche nicht.
Er kommt zur Eingangstür und öffnet sie. Die kühle Nachtluft des Spätsommers schlägt ihm ins Gesicht, aber ignoriert es, genauso, wie den kalten Tau auf dem Gras, während er zur Scheune geht. Das Haus ist dunkel, aber die Lampen auf der Straße und der Vollmond geben genug Licht.
In der Scheune geht er geradewegs zu einem alten Spind und öffnet ihn, greift selbstsicher rein und denkt an seinen Opa. Er hat ihn kaum gekannt. Als er noch sehr klein war, als Opa noch lebte, spielte er viel mit ihm. Er kann sich an kaum etwas aus jener Zeit erinnern, wohl aber an die Geschichten, die er über seinen Opa gehört hat. Er weiß genau, dass jene Geschichten keine Märchen sind.
Sein Opa war ein Handwerker und beschäftigte sich mit Lederverarbeitung. Er hatte sogar einen eigenen Betrieb, als er noch jung war und viel arbeiten konnte. Neben dem Betrieb hatte er zahlreiche Hobbys. Er konnte zum Beispiel gut schnitzen und war auch stark. Opa war in seinen jungen Jahren Ringer und hatte sogar an Wettbewerben teilgenommen und die Jungs, denen damals nicht passte, dass er Oma den Hof gemacht hatte, in ihre Schranken gewiesen.
Opa war auch eine Art von Metzger. Als das noch üblich war, schlachtete er Schweine bei den Nachbarn und in kleineren Mastbetrieben in der Gegend. Die Betriebe haben nacheinander dicht gemacht und Opa wurde auch nicht jünger. Er hat irgendwann mal aufgehört. Die Familie besitzt noch seine Ausrüstung und hält sie in Ehren. Sie ist im Spind verstaut, in einer geölten Lederhülle.
Klaus holt das lange Messer aus der Hülle. Durch das Fenster schimmert das Mondlicht silbrig. Er lächelt. Damals, so sagt man, wenn Opa ein Schwein abgestochen hat, hat das Schwein nur leise gewimmert und das auch nicht sehr lange. Es hat nie geschrien.
Er geht zurück ins Haus. Im Obergeschoss geht er direkt zum Schlafzimmer seiner Eltern und öffnet die Tür lautlos. Er kennt auch hier die stummen, die leisen und die lauten Bodendielen. Klaus bleibt neben seiner Mutter stehen. Sie schläft mit dem Gesicht zu ihm. Er überlegt kurz und sticht zu. Seine Mutter öffnet die Augen, die Pupillen weiten sich und dann werden ihre Augen matt. Nicht einmal ein leises Wimmern.
Sein Vater schläft auf dem Rücken. Klaus sticht zu, diesmal ohne großartig zu überlegen. Sein Vater gibt einen leisen Ton von sich, der eher an das Quietschen einer Bodendiele erinnert. Er versucht sogar, die Augen aufzumachen und sich aufzurichten, aber der Stich saß viel zu gut und schloss jegliche Handlungsfähigkeit aus. Der kleine Bruder schreit auf. Es ist ein tiefer, entsetzlicher Schrei, aber Klaus zuckt diesmal nicht zusammen. Er geht in sein Zimmer und sticht zu. Sofort wird es still.
Nach der getanen Arbeit geht er in die Küche und legt das Messer in die Spülmaschine. Diesmal kümmert er sich nicht mehr darum leise zu sein. Mit einem Lächeln geht er zurück ins eigene Zimmer, legt sich ins Bett, deckt sich zu, legt die blutigen Hände auf die Decke und schläft augenblicklich ein.
Die Nacht vergeht ohne Albträume oder irgendwelche Grübeleien. Klaus fühlt sich zum ersten Mal seit Jahren frei. Als er nach dem traumlosen und erholsamen Schlaf aufwacht, starrt er einige Zeit auf seine blutigen Hände. Dann hört er nichts. Die unangebrachte morgendliche Stille frisst sich in sein Bewusstsein und weckt ihn so richtig auf.
In dem Moment kommt die Angst zurück und bliebt sie für immer bei ihm.
Version 4