Von Sabine Esser
Ich habe keine Ruhe mehr im eigenen Haus. In mir selbst. Vor allem nächtens drängen sie aus allen Mauerritzen hervor. Kakerlaken, Asseln und sonstiges Getier. Ich kenne sie! Ich will sie nicht! Ich will schlafen! Meine Ruhe haben, mein Leben leben! Gut essen und trinken. Vor allem aber schlafen!
Es nutzt nichts, den Pantoffel nach ihnen zu werfen, die Löcher in den Dielen mit heißem Wachs zu verstopfen, die Fensterläden verschlossen zu halten. Sie kriechen und fliegen in der Dunkelheit herum, werden immer größer, bedrängen mich. Um sie zu töten, müsste ich mich selbst umbringen. Wenn ich ihnen aber Raum gebe, wird das Heilige Offizium mich greifen.
Da, da ist sie schon wieder, diese Fratze! Sie lächelt. Rattenspitze Zähne hat sie und ist stets bissbereit. Ihre winzigen Augen sind auf Beute aus. Noch begattet sie der wohlgebaute Stier. Und der müde Esel schaut immer nur zu, weiß vielleicht, dass alles nur eine Frage der Zeit ist. Er selbst hält sich und seinesgleichen allerdings für ewig.
Ich muss genau hinstarren, um zu erkennen. Sie sind so flüchtig. Da sind die Greife mit den riesigen Schwingen, die die, die sich so wichtig dünken, ins Nirgendwo entführen. Sie mögen sich aneinander oder an den Geldbeutel klammern. Niemand von ihnen ist davor gefeit, in die Bedeutungslosigkeit enthoben zu werden.
Die anderen aber, die ich nicht male, die bleiben, mahnen und quälen mich. Wollen Wahrheit. Ich kann sie nicht einsperren, nicht ins Tagebuch verbannen. Sie entkommen doch.
Da, am Fenster sind wieder die beiden Alten, die ihre Tochter zur Unzucht abrichten, damit sie es mal besser hat. Diese verdammte Schlange, die aus dem Munde eines Conte kriecht. Wie sie züngelt nach jungen Opfern! Ich sehe, dass das Mädchen schreit. Eine gegen drei. Die fetten, syphilitischen Priester sehen weg, denken nur ans Fressen.
Und da! Da schleppt sich eine Frau mit letzter Kraft durch die Tür des Wandschrankes. Das Büßerhemd trägt sie und den Spitzhut. Mich, mich ruft sie um Hilfe an! Ich kann ihr nicht helfen! Sie wird brennen auf dem Autodafé. Wie so viele. Wie ich vielleicht auch. Jeder weiß doch, wie die Richter richten!
Und dort, dahinten im Schatten, kaum zu erkennen: Die unzähligen Namenlosen mit den hungrigen Augenhöhlen. Durch die Fetzen ihrer Kleidung kann ich ihre spitzen Knochen und ausgemergelten Körper sehen. Sie sind ganz still, schreien nicht. Sie sollen aufhören, mich anzustarren! Ich kann nicht helfen! Und ich will auch nicht! Ich will endlich meine Ruhe und schlafen! Einfach nur schlafen. Keine Bilder mehr! Ich sehe viel zu viel, was ich nicht sehen darf! Dabei ist es nur die Wahrheit.
Zu meinen Füßen nagt ein Hund an einem abgerissenen Arm.
„Erlösung! Erlösung von dem Übel“, sehe ich in all‘ den aufgerissenen Mäulern von Mensch und Tier.
Schuld vergeben? Das kann nur der Allmächtige.
Ich, ich, Francisco de Goya y Lucientes, werde anklagen. Ich werde sie zeichnen. Ich werde den Stummen Gehör verschaffen. Sie und mich befreien.
Version 3