Von Anne Zeisig

„Noch einen, äh, einen, scho einen, ähem, so einen.“

Lilly zeigte auf die Wodkaflasche und wollte ihre Ellbogen am Tresen abstützen, aber diese rutschten ab und landeten schlaff auf ihren Oberschenkeln.

Auch ihr Kopf war schwer wie eine Bleikugel.

Deshalb legte sie ihn auf der Bar ab und nuschelte: „Haben Schie“, sie hüstelte, „Sie eígentlisch schon ihr Testa-testa-ment-ment gemacht?“, lallte sie. „So mit allem Drum und Dran? Mit Grabrede zum Beispiel?“

Und ruderte mit ihren Armen wie eine Ertrinkende ins Leere, bevor sie an der Theke Halt fand.

 

Der junge Barmann zuckte mit den Achseln: „Mir egal, was man nach meinem Tod über mich redet.“ Er war es gewohnt, dass Menschen, die zu viel getrunken hatten, über ihren Tod sinnierten. Allerdings waren die älter, als die Dame auf dem Barhocker.

 

„Habe isch in ihrem Alter auch noch nischt dran gedacht.“ Es folgte eine kleine Pause. „Aber mir ischt nicht einerlei, wie man hernach über mich redet.“ Sie hob ihr leeres Glas hoch. „Obwohl ‘s da wenig zu sagen gibt.“ Ein Seufzer füllt die kurze Redepause. „Wenig über mich.“

 

Sie rappelte sich auf und fächerte sich mit der Getränkekarte Luft zu: „Wir gedenken unserer liebsten Lilly, treusorgende Tochter und Ehefrau, welche uns leider viel zu früh verlassen hat. Wir werden ihre Fürsorge vermissen. Das Flurputzen, das Kochen und ihre Dates mit der Waschmaschine im Keller. Keine konnte die Wäscheklammern soooo anmutig mit den künstlichen roten Fingernägeln an Wäsche und Leine klipsen, wie sie.“

Lilly prustete sich eine rote Locke von der Nase: „Sie war immer ehrlich! Konnte sich stets voller Aufrichtigkeit im Spiegel betrachten! Nie ein Techtelmechtel mit einem anderen! Kein böses Wort gegen den Angetrauten und die Mutter.“

 

„Lady“, sagte der Barkeeper versiert freundlich, „ich würde Ihnen zu einem alkoholfreien Cocktail raten.“

 

Sie blickte kurz zu ihm auf, ließ ihren Kopf wieder auf die Marmortheke fallen und hauchte: “ Wodka reicht nicht, ich will einen Whisky.“ Sie hob einen Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Höhe und rief: „Ich war viel zu lange eine brave, sorgsame Hausfrau!“ Blickte sich zwischen den Flaschen und Gläsern in der Spiegelwand hinter der Bar an und schüttelte ihre kastanienrote Mähne. „Das ist eine Perücke“, prustete sie und hielt dem Barkeeper abermals ihr leeres Glas entgegen.

 

Ihr wurde ein Doppelter serviert. Sie goss den Inhalt mit einem Zug in ihren Schlund. „Ahhhhhh!“ Brennend erreichte der Alkohol ihre Speiseröhre und sodann den Magen, der es klaglos hinnahm.

 

Sie raffte sich kurz auf und klopfte auf ihre Brust: „Aussen noch gansch, ganz passabel, aber innen nur Müll. Es ist nicht der Magen, es ischt, ist der Kopf“, und zeigte auf ihre Stirn.

Dann auf ihren Busen: „Die einen haben den Kack in ihrer Brust, ich im Kopf.“

„Alles entartete Zellen in meiner Birne.“ Ungelenk wies sie mit ihren knochigen Fingern auf ihre Schläfe.

 

Der junge Mann lächelte: „Aber Lady. In ihrem Alter wird man mit Alzheimer und Demenz doch gewiss noch nichts zu tun haben.“

Er tippte eher auf Alkoholismus. Sagte das natürlich nicht. Der Gast ist König. Und wenn der nicht randaliert, bringt er Umsatz.

Wandte sich ab, spülte ein Glas aus und sah in der Spiegelwand, wie sein Kollege im Oberkellner-Livreé die Hotelbar querte. Er warf ihm einen gehauchten Kuss zu mit einem Etwas-Lächeln.

 

Wie jung der Barmann doch war! Anfang Zwanzig? Aber auf jeden Fall älter als der Junge vom Block gegenüber.

 

Und wieder schlug ihr Haupt hart auf die Platte.

„Noch einen!“, befahlt sie eindringlich. “Es gibt keinen Ehemann mehr, der mir das verbieten  kann! Das feige Schwein hat sich verabschiedet, als ich ständig an den Schläuchen gehangen habe zur Lebensverlängerung. Nun bin ich austherapiert. Und meine Mutter ist im Heim, seit sie den Kühlschrank mit dem Kleiderschrank verwechselt hat. Auch ihr Hirn. Aber das sind Eiweißablagerungen.“ Sie gluckste bitter. „So what! Am Ende ist das Ergebnis gleich.“

 

Der Barangestellte hörte kaum hin. Lächelte beim Gläserpolieren selig in die Spiegelwand hinein, wo er flüchtig seinen Liebsten gesehen hatte.

 

* * *

 

„Alter! Was sind das für Spiegelkonstruktionen, die du um dein Fenster befestigt hast!“

 

„Für Sternenbeobachtungen“, antworte Sascha seinem Freund Adrian und zwinkerte ihm zu, als er sein Fernglas auf den Gegenspiegel richtete. Beide Augen daran heftete: „Die Spiegel dienen der Ablenkung, damit es nicht so offensichtlich ist, dass ich -“ Er sprach nicht weiter.

Rieb sich stattdessen an seiner Jeans im Genitalbereich.

 

„Alter! Dein Fernrohr zeigt nicht nach oben, es zeigt nach unten!“ Der Freund blätterte in einer Jugendzeitschrift.

 

„Genau das dient ja dem anderen Blickwinkel“, brachte Sascha stoßweise hervor.

 

„Ich habe keinen Bock auf den Großen Wagen und den Nordstern.“ Sein Freund blätterte in der Rubrik: ‘Ich muss immer auf den Busen meiner Nachbarin starren.’

„Unsere Nachbarinnen haben keine tollen Brüste“, sagte er mehr zu sich selbst und wechselte zur nächsten Seite.

 

„Hä? Hast du was gesagt?“

 

„No blasser Schimmer, Kumpel, warum du ins All starrst und dabei keuchst, als würdest du die Welt umrunden.“

Er  las gedanklich weiter.

‘Die Brustwarzen einer Frau werden bei sexueller Erregung hart, wenn ein Mann an ihnen saugt oder sie massiert.’

 

Sascha rutschte unruhig auf seinem Hocker vor dem Fenster hin und her.

Das Fernglas vibrierte in seinen zitternden Händen, so dass er es fast nicht mehr ruhig und fixiert halten konnte.

„Wow!“, rief er aus, sackte auf dem Stuhl zusammen, atmete tief ein und aus, wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wahnsinnig aufregend!“

 

Adrian ließ die Zeitschrift fallen, riss das Fenglas an sich,  richtete es auf einen der Spiegel und drückte sich die Linsen eng an die Augäpfel: „Du Spasti! Ich seh nix! Keine Sterne, nix! Ist ja auch bewölkt.“

 

Sascha nahm ihm das Weitsichtglas der Hand: „Das ist ja auch nur mein Stern. Den sehen andere nicht.“

 

* * *

 

„Na klar“, säuselte sie und befahl dem Barangestellten per Fingerzeit, dass er näher zu ihrem Mund kommen müsse, um sie zu verstehen, „habe ich schnell kapiert, dass mich das Bürschchen beobachtet.“

 

Lilly lachte laut, um sich Mut zu machen, weil die Wände des Raumes sich immer näher zusammenschoben. Ihr auf den Brutkorb drückten. Sie sog die stickige Luft zischend in ihre Lunge.

 

„Geht es Ihnen nicht gut?“, hörte sie den Cocktailmischer aus weiter Ferne fragen.

 

Ihre schweißgetränkten Haare klatschten nass an ihren Schläfen, als Lilly ihren Kopf schüttelte. Sie nahm die Hand des jungen Mannes: „Ich habe mich wie eine begehrenswerte Frau gefühlt!“ Ihre Stimme kreischte zunächst und sackte dann brüchig ab.

 

Er versuchte vergeblich, seine Hand unter der ihren wegzuziehen, aber sie krallte sich fest und wurde vom Weinen geschüttelt: „Es hat mich angemacht!“

 

„Aber Lady, ich, ähem, das geht mich wirklich nichts an. Sie sind erwachsen. Jeder nach seiner Vorliebe.“

 

Schlaff gönnte sie seiner Hand die Freiheit.

 

„Keine Angscht, äh, Angst“, zischte Lilly zwischen ihren spröden blassen Lippen hervor, „ein Glioblastom, ein Hirntumor, ist nicht ansteckend.“

 

„Was?“, fragte der Barkeeper. „Ein Was? Ein Hirntum…“, blieb ihm im Halse stecken. Das Schreckliche schwebte für ihn unaussprechlich im Raum, während die Wände sich endgültig zu einer winzigen Kammer für Lilly zusammen geschoben hatten.

 

Sie stand schwankend auf, hielt sich an der Theke fest, kramte ungelenk ein paar Scheine aus der Hosentasche hervor und warf sie auf den Tresen. „Er hat mich nach zwanzig Ehejahren verlassen.“  Nahm in einem Ruck die Perücke ab und warf sie neben ihr leeres Glas. „Für ihn bin ich das Chemo-Monster mit kurzer Restlaufzeit.“

 

Lilly stieg unbeholfen vom Barhocker hinunter, hielt sich an der umlaufenden Metallreling fest und zog das enge kurze Kleid zu ihren Knien hinunter.

 

Der Barangestellte schaute zu den anderen Gästen und stülpte ihr eilig das Haarteil über.

„Die Perücke steht Ihnen doch gut“, sagte er hilflos. „Kastanienrot ist immer was Besonderes.“

 

Sie warf ihm einen kalten Blick zu: „Für das Spannerbürschchen von Gegenüber bin ich keine Perücke.“

 

* * *

 

„Aha“, sagte Saschas Freud geistesabwesend, weil er sich wieder der Zeitschrift zugewandt hatte und endlich auch einmal etwas Schlaues sagen wollte: „A star ist born sozusagen. Only for you.“

 

Sascha nickte lächelnd.

 

 

verision  ZWEI