Von Brigitte Weirather

Blut. Überall.

 

Ganze Ströme scheinen aus seinem Kopf zu schießen. Seinem linken Auge. Dem Mund. Dem Hals. Er spürt keinen Schmerz.

Wundert sich nur über diesen riesigen, lauwarmen, roten Fluss. Der sich aus seinem Kopf entleert. Ihn entleert.

 

Verwunderung ist es also. Das letzte Gefühl. Nicht Erleichterung. Oder Reue. Angst. Oder gar Freude.

 

Noch vor einer halben Stunde hatte er im Badezimmer gestanden. Hatte seine Zähne geputzt. Wie jeden Abend vor dem Schlafen gehen.

 

Er hatte das Licht im Bad eingeschaltet. Versehentlich. Und in den Spiegel geschaut. Entgegen seiner Gewohnheit. Und sich beinahe nicht erkannt:

 

Das aufgedunsene Gesicht. Die Haut teigig. Mit einer Schweißschicht überzogen. Glanzlose Augen.

 

Vergeblich hatte er gesucht. Nach einem Ausdruck. Einem Eindruck.

Einem Charakterzug. Seinen Charakterzügen.

Feuer. Willensstärke. Intelligenz. Kampfgeist. Lebensmut. Nichts davon.

Stattdessen diese Leere. Diese absolute Leere.

 

Und da war ihm die Erkenntnis gekommen. Hatte ihn vollkommen eingenommen. Das Wissen, dass der Augenblick gekommen war.

 

Er wollte nicht mehr kämpfen. Sich nichts mehr vormachen. Sich keinen falschen Hoffnungen mehr hingeben. Er würde jetzt. Genau jetzt. Schluss machen.

 

Damals hatte er gekämpft. Glaubte entkommen zu sein. Das Einsperren. Die Medikamente.

Sie hatten ihn nicht brechen können.

 

Er hatte nur vorwärtsgeschaut. Karriere gemacht.  Viel Geld verdient. War um die Welt gereist,

Hatte allein gelebt. Oder zu zweit. Aber immer auf dem Sprung. Hatte Distanz gewahrt. Nie vertraut.

 

Und dann waren die Schmerzen gekommen. Zuerst selten und schwach. Ein Sonntag im Monat. Zwei. Ein Wochenende. Zwei. Drei. Jedes Wochenende. Zuletzt ständig und höllisch.

 

Spätfolgen der Elektroschocks. Nach dreißig Jahren.

 

Ein Jahr in der Anstalt damals. Lieber einen kranken Sohn als einen schwulen. Er konnte fliehen. Darauf war er stolz. Heute noch. Schwul sein ist nicht mehr sein Problem.

 

Aspirin, Paracetamol, Iboprofen, Kältekammer, Biofeedback, Joga, Triptane, Opiate, Benzo, Cortison. Manchmal hilfreich. Häufig nicht.

 

 

Aber heute hatte er sich gesehen: Den  besiegten Mann. Den gebrochenen.  Er konnte keinen Mut erkennen. Keinen Wiederstand. Keine Kraft. Nicht mehr.

 

Das Blut war längst auf den Scherben des Spiegels getrocknet, als seine Leiche abtransportiert wurde.