Von Valerie Lindner

„Traust du dich?“.

Lächelnd hält sie mir den silbrig glänzenden Handspiegel vor die Nase. Sein Glanz umhüllt den ganzen Raum und ich fühle mich magisch davon angezogen. Langsam strecke ich meine Hand nach dem kunstvoll verzierten Schmuckstück aus.

„Was ist das?“, flüstere ich ehrfürchtig.

Die alte Frau umgreift mein Handgelenk. Ihre fast schwarzen Augen scheinen direkt in meine Seele blicken zu können. Ihr Gesicht ist faltig und ihre Lippen sind zu einer schmalen Linie verzogen.

„Er offenbart dir einen Einblick ins tiefste Innere.“ Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Windhauch, ganz nah an meinem Ohr.

 

Alles in mir verzehrt sich danach den Spiegel zu berühren obwohl ich kein Wort von der Alten wirklich verstanden habe. Umso näher ich ihm komme, desto mehr scheint er zu strahlen. Als ich die letzten Zentimeter überbrücke, erstrahlt der ganze Raum in goldenem Licht und mein Sichtfeld beginnt zu verschwimmen. Ich spüre das glühend warme Metall in meiner Hand und sehe mein Spiegelbild. In meinen braunen Augen schwirren goldene Punkte, meine dunklen Locken fallen mir ins kantige Gesicht. Jede einzelne Sommersprosse scheint auf meinem Gesicht zu tanzen und meine Lippen glitzern im Licht. Plötzlich verschwimmt mein Gesicht und es sieht aus als würde das Spiegelglas einlaufen. Es verwandelt sich in flüssiges Silber, in dem meine Reflexion nur noch schwach zu sehen ist und wabert innerhalb seines Kreises hin und her. Es ist als würde sich der Spiegel mir öffnen, als würde er mich einladen. Ich höre das Kichern der Alten als leises Echo in meinem Ohr, als käme es aus einer anderen Zeit. Ein letztes Mal betrachte ich die goldenen Funken in meinen Augen, dann schließe ich sie und gebe mich dem Zauber hin.

 

Bevor ich meine Augen wieder öffnen kann, tritt ein anderer meiner Sinne in Kraft. Ich fühle mich wie betäubt vom um mich herrschenden Lärm. Ein lautes Summen dröhnt in meinen Ohren. Wenn man ganz genau hinhört, kann man verschiedene Stimmen ausmachen, hupende Autos, ein schreiendes Kind, knirschende Schritte, das Einfahren einer U-Bahn… Ein gigantisches Gewirr verschiedenster Geräusche, die sich zu einem anhaltenden Summen zusammentun. Ich weiß dass es mich immer begleitet, es nie verstummen wird. Ich möchte schreien aber mir fehlt die Luft. Panisch suche ich nach Platz, fühle mich eingeengt und eingesperrt in mir selbst. Endlich gelingt es mir die Augen aufzuschlagen. Tausend Bilder ziehen an mir vorbei, keines prägend genug dass ich es mir lange merken kann. Ich sehe mich selbst auf ein renommiertes College gehen, sehe mich nächtelang über Büchern sitzen, finde mich in einer großen Firma wieder, umringt von Menschen und trotzdem ist mir Niemand wirklich nah. Ich sehe mich immer weiter aufsteigen und obwohl ich jetzt eine wichtige Persönlichkeit bin, führe ich ein bedeutungsloses Leben. Ich zerstöre alles um mich herum ohne es zu bemerken. Meine Sinne werden von Informationen überflutet und dennoch bleibt nur das ewig anhaltende Summen, das droht mich in den Wahnsinn zu treiben. Ich weiß nicht wo ich bin, weiß nicht wer ich bin.

„Es soll aufhören“, wispere ich leise.

Das Summen wird immer lauter und die Spannung zerreißt die Luft.

„Es soll aufhören“, schreie ich diesmal.

 

Plötzlich verstummt der Lärm um mich und ich spüre wie ich erneut von einer warmen Woge erfasst werde und das helle Licht wieder in mein Inneres strahlt.

 

Als ich diesmal aufwache, sehe ich wie durch Nebelschwaden. Worte kommen kaum bei mir an und sosehr ich mich auch anstrenge, kann ich den Weg, den ich gehe, nicht sehen. Ich bemerke eine Hand nach Meiner greifen, jedoch breitet sich kein Gefühl in mir aus. Eine unbeschreibliche Leere umschließt mein Herz und ich fühle überhaupt nichts. Ich fühle weder die Sonnenstrahlen, noch die Regentropfen auf meiner Haut. Ein Bettler greift nach meinem Knöchel, doch ich schüttle ihn ab ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Meine Lippen sind wie taub als sie von einem anderen Paar Lippen berührt werden. Eine einsame Träne verlässt meinen Augenwinkel und rinnt über mein Gesicht. Sie bahnt sich ihren Weg über meine Wangen und tropft von meinem Kinn. Die Trauer bleibt aus. In mir klafft ein schwarzes Loch.

Ich schüttele den Kopf und richte meinen Blick nach oben.

„Ich will raus.“

 

Ein warmer Goldregen prasselt auf mich hinab und vor meinen Augen sehe ich goldene Funken tanzen. Ich spüre die vertraute Wärme und sauge sie gierig auf. Sie verdrängt nach und nach das taube Gefühl und eröffnet mir eine neue Welt.

 

Diesmal bin ich von vielen Menschen umgeben, die alle in die gleiche Richtung laufen. Ich eifere dem gleichen Ziel nach wie die Anderen. Ich konzentriere mich vollständig auf das Knirschen der Schritte. Sie sind exakt synchron und ich fühle mich sicher. Ich weiß genau was passieren wird, ich sehe meinen Weg klar und deutlich vor mir. Niemand von der Menschenmasse ändert sein Tempo. Vereinzelt kommen Menschen vom Weg ab und biegen in andere Straßen ein. Ein Mädchen neben mir lehnt sich zu mir und zuckt mitleidig mit den Schultern.

„Sie sind verloren. Jeder, der vom Weg abkommt ist verloren.“

Ich runzle die Stirn und schüttele den Kopf. Mein Blick schweift nach vorne und meine Augen weiten sich.

„Wieso gehen wir geradeaus? Wir laufen auf einen Abgrund zu!“

Das Mädchen antwortet nicht. Ihre Augen sind starr nach vorne gerichtet.

„Hey!“.

Ich tippe einem hochgewachsenen Mann auf die Schulter.

„Wir laufen falsch oder?“.

Er belächelt mich. Verzweifelt suche ich eine ansprechbare Person. Ich sehe mich um und bemerke erst jetzt, dass alle Menschen das Selbe tragen. Ich zupfe das Mädchen neben mir am T-Shirt aber als sie zu mir rüber sieht erstarre ich vor Schreck. Ihr Gesicht ist eine leere Maske. Ihre Augen sind mit schwarzen Fäden zugenäht worden und ihre Mundwinkel wurden zu einem Lächeln an ihre Wangen festgenäht. Eine mechanische Stimme ertönt aus ihrer Brust:

„Es ist alles gut. Hör auf dir Sorgen zu machen.“

Ihre Stimme klingt bedrohlich und der Gleichschritt der Masse wirkt auf einmal wie das Ticken einer Bombe auf mich.

„Das ist nicht richtig“, stammele ich verzweifelt.

Ich versuche aus der Gruppe zu fliehen und sehe eine kleine abgehende Straße. Ich kämpfe mich durch den Strom und komme meinem Ausweg immer näher. Doch bevor ich ihn erreichen kann, packt mich einer der gesichtslosen Menschen und zerrt mich weiter auf den Abgrund zu.

„Nein!“.

Meine Stimme klingt schrill und viel zu hoch. Verzweifelt winde ich mich unter seinem Griff und versuche zu entkommen. Ich schlage wild um mich und rufe um Hilfe. Aber er ist zu stark. Meine Arme und Beine werden schlaff und mein Mund schließt sich wieder. Ich weiß dass ich sterben werde und schließe meine Augen wartend auf das Ende.

 

„Düster oder?“.

Die Alte sitzt mir wieder gegenüber und strickt in einem Schaukelstuhl. Ich schnappe hastig nach Luft und spüre wie mein Herz gegen meine Brust schlägt. Augenblicklich realisiere ich wo ich bin und werfe den Spiegel weit von mir. Kurz ist es still und alles was man hört ist das Quietschen ihres Schaukelstuhls.

„Was war das?“, frage ich sie mit dünner Stimme.

Ich werde von meinen Gefühlen überrannt und fange an zu schluchzen. Tränen strömen mir über die Wangen und ich schlage mir die Hände vors Gesicht. Eine tiefe Traurigkeit ergreift Besitz von mir und will sich nicht abschütteln lassen. Die Alte wartet bis ich mich beruhigt habe und legt ihr Strickzeug nieder. Diesmal offenbart sie mir einen Einblick in ihre Seele und ich spüre ihre bittere Verzweiflung.  

 

„Das war der Spiegel der Gesellschaft.“