Von Klaus Ratz

„Wie war er nun, dein Tag?“, er saß auf dem Bürosessel seiner Frau und schaute auf die Glasscheibe des Fensters. Sie hatten sich schlussendlich für Kunststofffenster entschieden. Außen mit Alu-Abdeckung, damit es etwas gleich schaute, denn Holz wäre zwar schöner, doch die Pflege und die viel höheren Kosten…

Er dachte zurück wie schwer es doch war die Entscheidung zu treffen. „Holz oder Kunststoff? „Vielleicht nur im Wohnzimmer mit Holz?“ „Nein, entweder alles Kunststoff oder alles Holz!“ „Ok, dann nehmen wir die günstigere Variante.“

 

Im Nachhinein betrachtet war dieses Hin und Her nur strapaziös und sinnbefreit. Es gab so vieles zu entscheiden, zu wählen, zu bestimmen und in Wirklichkeit war ihm das gar nicht so wichtig. Es gab etwas in seinem Leben, dass ihn viel mehr beschäftigte. Auch der Bürosessel seiner Frau war nur ein Objekt, auch wenn ihm die hellgrüne Farbe gar nicht gefiel. Doch was soll´s, er saß meistens sowieso in der Küche und sinnierte dahin.

 

Seit ein paar Tagen war er täglich im Büro. Er setzte sich auf den hellgrünen Sessel und schaute auf das Fenster. Er sah einen Mann, Ende dreißig, mit einer Frisur, welche nach professionellem Haarschnitt schrie und einem Bart der schon über die Lippen hing. Eine Phase wie er sich selbst sagte. „Ein anderer kauft sich einen Porsche“, erklärte er wenn ihn wer auf die zerzausten langen Haare ansprach.

 

Er schaute sich eine Zeitlang an und fragte sich wen er da im Fenster sah. Sah er sich selbst in diesem trüben Spiegelbild? Durch die Scheibe war nicht alles erkennbar. Nur wenn es draußen langsam dunkler wurde, konnte er immer mehr von sich erkennen. Die Dunkelheit brachte sein Spiegelbild hervor und er betrachtete sich so ein paar Minuten lang. Nicht kritisch, er hatte nichts auszusetzen an seinem Aussehen. Es war ihm gleich wie andere ihn optisch sahen. Lediglich sein Übergewicht beschäftigte ihn manchmal, doch nicht wenn er in dieses Fenster sah. Was er suchte, wenn er hier, scheinbar meditierend, mit offenen Augen, saß, war das, was das Gesicht sagte. Der Blick, die Mimik, die Augen. Sprachen sie mit ihm?

 

Wie würde ein anderer ihn sehen, wenn er ihn, so wie im Spiegelbild, sah? Er malte sich einiges aus und ließ die Gedanken wieder fallen. Erinnerungen kamen ihm hoch und gingen wieder. Da war die Frau, die ihr Kind beim Arm packte, der Bäcker, der samstags am Morgen die Semmeln und Rosinenbrötchen brachte, der Rauchfangkehrer, der Kaffee mochte und vieles mehr. Bis dann auch mal die Leere kam, angenehme Leere. Und dann der See, der große See in den er zerfloss. Er sah sich selbst tief in die Augen und begann sich darin zu verlieren. Wie konnte das möglich sein? Sich in den eigenen Augen verlieren. Wie er darüber nachdachte viel ihm ein warum er hier, im Zimmer, saß und zum Fenster schaute.

 

Er begann zu klopfen. Erst am Gesicht, dann auf dem Oberkörper und schlussendlich auf den Fingern. Das Klopfprogramm sollte ihm helfen. Es sollte ihm helfen, mehr bei sich zu bleiben und nicht in diesen See zu fließen. Manchmal war dieses Gefühl des Zerfließens auch ganz schön, doch nur wenn er alleine und für sich war. Wenn er mit mehreren Personen zusammen war, konnte er das Gefühl nicht brauchen. Da wollte er bei sich bleiben, seine Grenzen kennen, sich nicht schlecht fühlen. Darum klopfte er, nun schon seit Tagen, jeden Abend. Und dazu sprach er die Worte, die er wie ein Mantra vortrug. Er sprach und klopfte um in seinem Körper und seinem Geist eine neue Sicht, neue Gefühle zu transformieren. Eine positive Sicht und gute Gefühle, die ihm Energie spendeten und nicht raubten. Gefühle wie Sicherheit, Gelassenheit, Vertrauen, Leichtigkeit, Freude und Freiheit. Dafür gab er negatives auf und tauschte die Gefühle aus. Er entfernte sich von den Einstellungen, die er mitgenommen hatte, aus früherer Zeit. Er brauchte diese Einstellungen nicht. Nein, sie hemmten ihn und ließen ihn schlecht über sich denken.

 

Da fiel ihm das Rosenkranzgebet ein, welches er früher oft, in der Kirche, mitgebetet hatte. Das Mantra erinnerte ihn gerade irgendwie daran. Etwas verdutzt dachte er weiter. Sogar Zuhause betete er als Kind manchmal die verschiedenen „Gsetzerl“, wie die einzelnen Passagen – scheinbar liebevoll – genannt wurden. Er hielt kurz inne: „Gegrüßt seist du Maria, voll der Gnade der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesu“, kam es ihm in den Sinn. „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“, er schüttelte den Kopf.

 

„Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld“…

 

Plötzlich weiteten sich seine Augen, sein Mund öffnete sich zu einem erstaunten Blick. Seine Brust begann zu beben und die Wut stieg in ihm hoch. Eine zerstörerische Wut und das Kribbeln im Hinterkopf begannen wieder, so wie er es schon seit Tagen kannte. Dann schoss es ihm plötzlich in alle Glieder: „Durch meine Schuld <Brustklopf>, durch meine Schuld <Brustklopf>, durch meine große Schuld <Brustklopf>“ und er spürte das Grauen, welches ihm kalt über die Schultern kroch.

 

Er wusste nun warum das Klopfprogramm, welches er in den letzten Tagen anwandte, helfen würde. Es war die Umkehr von den grauenhaften, immer wiederkehrenden Glaubenssätzen, die im Gottesdienst eingetrichtert wurden. Es wurde ihm nun so klar was ihm und vielen anderen vor langer Zeit damit angetan wurde. Nun hatte er ein Mittel zur Abwehr, etwas was er effektiv dagegen einsetzen konnte. Es war die gleiche Waffe, nur mit mehr Reife und viel Liebe. Er kam wieder etwas zur Ruhe, hatte Tränen in den Augen. Er sah die glasigen Augen in seinem Spiegelbild. Er war glücklich über seine Erkenntnis und begann zu lächeln während eine Träne über die rechte Wange rollte. Er begann wieder zu Klopfen. Egal wie sich das Mantra anhörte, dass er nun für sich sagte, es war der Weg, den er beschreiten musste, um sich besser zu fühlen, positiver zu werden und auch, um das „Kirchen-Klopfprogamm“ zu löschen. Er würde noch viele Tage klopfen, mit der Vorfreude und Gewissheit, dass es einen Sinn hat dies zu tun.

 

„Das Gute wird immer Siegen!“, der Gedanke machte ihn überglücklich.

 

Für heute war er fertig. Er schob den Zettel, auf dem das Mantra aufgeschrieben war, von sich weg und, stand auf. Seine Frau wartete sicher schon im Wohnzimmer auf ihn, schön gekleidet und bereit zum Ball zu gehen. Sie tanzten gerne und sie waren schon lange nicht mehr unter Leuten. Wunderbar, dass die Kinder heute bei den Eltern schliefen und das Paar Zeit für sich hatte. Er ging in den Gang hinaus und wollte die Tür schließen, doch er hielt inne. Dann drehte er sich noch einmal um, ging zurück ins Büro, stellte sich mittig in den Raum und schaute noch mal in das Fenster. Nur kurz betrachtete er sich im Spiegelbild und ein Lächeln tauchte in seinem Gesicht auf. Er war zufrieden. Fenster aus Holz hätten ihm ja doch nicht gefallen…