Von Manuel Fiammetta

„Opa, erzählst du uns wieder eine Geschichte?“

Die kleine Luisa war ganz vernarrt in Großvaters Geschichten. Genau genommen waren es Ur-Großvaters Geschichten. Doch weder Luisa, noch ihre älteren Brüder Max und Benjamin, sagten Ur-Opa. 

 

„Oh ja“, stimmten die Brüder mit ein. „Aber diesmal bitte eine zum Gruseln.“

Luisa hielt sich erschrocken beide Hände vor den Mund, als Opa Franz sie schon beruhigte.

 

„Jungs, wenn eure kleine Schwester mit zuhört, müssen wir ein wenig auf sie Rücksicht nehmen. Ich habe aber eine sehr interessante und spannende Geschichte für euch.“

 

Max und Benjamin waren kurzzeitig enttäuscht, setzten sich aber doch flink mit zu Luisa auf die Couch und lauschten gespannt, was ihnen ihr Opa zu erzählen hatte.

 

„Da Geschichten ja immer mit „Es war einmal …“ beginnen, fange ich heute auch wieder so an.

Also, 

es war einmal ein älterer Mann. Er war so um die siebzig…“

 

„Noch nicht so alt wie du“, grätschte Luisa rein.

„Sei doch mal still“, blökte Max, während Benjamin nur die Augen verdrehte.

 

„Ist schon gut, Jungs. Lasst eure Schwester.

Genau, Luisa. Der Mann war jünger als ich. 

Er fuhr eine Bundesstraße entlang. Es war die Bundesstraße 455 nach Königstein. Die Abendsonne ging mehr und mehr unter und ließ alles in einem wunderschönen Orange leuchten.

Heinz, so hieß der Herr, kam gerade von einem munteren Skat-Wochenende zurück. Solch ein Wochenende mit seinen alten Kumpels fand alle drei Monate statt. Sie trafen sich immer bei einem anderen Freund. Diesmal bei Karl, der etwa 200 Kilometer weit weg wohnte. Natürlich wurde nicht nur Skat gespielt. Es wurde auch gepokert.“

 

„Auch Strip-Poker?“ 

Nun war es Max, der sich einen witzigen Kommentar nicht verkneifen konnte. Opa und Benjamin lachten, nur Luisa wusste nicht, um was es gerade ging.

 

„Max, ich glaube nicht, dass die Herren scharf darauf waren, die nackten Körper der anderen zu sehen. Nein, 

sie pokerten um Geld. Nicht viel Geld, aber ohne machte es halt auch keinen Spaß.

Diese Wochenenden gingen meist viel zu schnell um und alle freuten sich schon wie Bolle auf das nächste Treffen.

So fuhr Heinz am Sonntagabend nach Hause. Die Bundesstraße war wie leer gefegt. Zunächst wunderte sich Heinz, doch dann erinnerte er sich wieder. Klar, dachte er, heute ist das Fußball-WM Finale. Er machte sich nichts aus Fußball.

 

„Das kann ich ja überhaupt nicht verstehen. Wie kann man nur kein Fußball mögen.“ 

Benjamin konnte es kaum glauben.

 

Er fuhr und fuhr die leere Straße entlang. Die Bäume links und rechts wirkten wie aneinandergereihte Streichhölzer. Das monotone Geräusch des Motors ließ die Augenlider immer schwerer werden. 

Schaut mal, so wie bei eurer Schwester.“

 

Opa zeigte auf Luisa, die gerade eingeschlafen war.

„Yes“, freute sich Max, „dann können wir ja jetzt zum gruseligen Teil kommen.“

 

Heinz war kurz davor einzunicken, als er in der Ferne die Umrisse eines Körpers auf der Straße liegen sah. 

Ein Wildschwein? Nein. 

Heinz drosselte seine Geschwindigkeit. Ein Hirsch war es auch nicht. Das was da lag, war nackt und sah, um so näher Heinz heranfuhr, aus wie ein Mensch.

Er parkte seinen Wagen ungefähr einhundert Meter vor der Gestalt am Straßenrand und stellte ein Warndreieck auf. Jungs, das ist sehr wichtig. Ihr müsst immer an das Warndreieck denken, wenn ihr auf einer Bundesstraße oder Autobahn stehen bleibt.“

 

Die beiden nickten eifrig.

 

Heinz lief also langsam zu dem leblos wirkenden Körper hin. Um so näher er ihm kam, um so mehr erkannte er, was da lag. Es war tatsächlich ein Mensch. Nackt, zusammengekauert und alt. Nur eine Bauchtasche umschloss seinen Körper. Heinz schätzte, dass er etwa so alt war wie er selbst. 

Ein Handy hatte Heinz nicht. Er weigerte sich immer gegen so neumodische Fötz.“

 

„Wie du, Opa“, riefen Max und Benjamin gleichzeitig und mussten deshalb laut lachen. Auch Opa konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Luisa zuckte kurz ob der plötzlichen Lautstärke, schlief dann aber, zur Erleichterung ihrer Brüder, ruhig weiter.

 

„Nun überlegte Heinz, was er machen sollte. 

Den Fremden einfach liegen lassen? Nein, dass wollte und konnte er nicht. 

Ihn anfassen? Wollte er eigentlich auch nicht unbedingt. Er wusste ja nicht, ob der Fremde vielleicht eine ansteckende Krankheit hatte. 

Schließlich entschied er sich dafür, den am Boden liegenden Mann mit dem Fuß am Rücken anzutippen. Zunächst gab es keine Reaktion. Lebte er denn überhaupt noch? Heinz tippte jetzt etwas fester. Man kann auch sagen, dass er leicht zutritt. Plötzlich drehte sich der Fremde zu Heinz um und starrte ihn mit großen, blassen Augen an. Heinz war wie erstarrt. Er konnte sich einfach nicht rühren. Der Fremde wiederum streckte die Arme nach oben und stammelte nur „Hilfe. Helfen Sie mir. Bitte helfen Sie mir.“

 

„Ein Zombie!?“, fragte Benjamin. 

„Kann ja nur so sein“, bestätigte Max ihn.

„Aber seit wann erzählt Opa Geschichten über Zombies?!“, war Benjamin doch noch nicht ganz überzeugt.

 

Wartet es ab, Jungs. 

Heinz nahm nun allen Mut und alle Kraft zusammen und half dem Fremden auf die Beine. Da stand er also. Wackelig, aber er stand.

Die beiden sahen sich an, ja musterten sich gar. Sie waren gleich groß, hatten die gleiche Kopfform, das gleiche Gesicht und auch auch die Art ungläubig zu schauen, war die gleiche. Einzig die Statur war eine andere. Heinz war stämmig. Nicht dick, aber gut genährt. Der Fremde hingegen war ein Strich in der Landschaft. 

„Wie ist ihr Name?“, fragte der Fremde mit zittriger und leiser Stimme. Heinz sagte ihm seinen Namen und stellte die selbe Frage.

„Armin“, antwortete der Fremde. Heinz stützte Armin und brachte ihn an sein Auto.“

 

„Ein Zombie das Armin heißt. Ich kann nicht mehr.“ 

Max bekam einen derartigen Lachanfall, dass Luisa wach wurde.

„Schlaf ruhig weiter, meine Kleine. Es ist alles gut.“ Opa streichelte Luisa über den Kopf. Alsbald schlief sie auch wieder ein.

 

„Heinz nahm Armin mit nach Hause. Im Auto sprachen sie kein Wort miteinander. Heinz hatte den Fremden auf die Rückbank platziert, um ihn so über den Rückspiegel besser im Auge behalten zu können. Auch zu seiner eigenen Sicherheit. Er war schließlich ein Fremder, wenngleich es ihm nicht so vorkam. Nein, es kam ihm nun so vor, als kannte er Armin schon seit Jahren. Oder sogar noch länger. 

Zuhause angekommen, gab Heinz Armin etwas zum Anziehen und bot ihm an, sich waschen und duschen zu können. In der Zwischenzeit machte Heinz ein paar belegte Brote und kochte Kaffee. Mehr hatte er nicht im Haus. Er wollte morgen einkaufen gehen und hatte eigentlich keinen Besuch erwartet. Eigentlich wollte er sich, nach der langen Autofahrt, sofort schlafen legen. Doch nun war da halt dieser Mann. Dieser Fremde, der irgendwie kein Fremder war. 

Mit jeder Minute, die sich die beiden unterhielten, wurde das Gefühl immer stärker. Heinz wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Sie unterhielten sich weiter, sprangen von Thema zu Thema.  

Sie verglichen ihre Interessen, ihre Abneigungen, ihre Vorlieben, ihre Ansichten. Es war, als saßen sie vor einem Spiegel und unterhielten sich mit ihm.“

 

„Hä, doch kein Zombie?! Dann vielleicht ein Alien? Armin das Alien?“ 

Benjamin wollte meist schnell Klarheit, mochte es insgeheim aber doch sehr zu Rätseln und Detektiv spielen zu können.

 

„Weder noch. Heinz hatte quasi sein Spiegelbild vor sich sitzen. Die beiden redeten weiter miteinander und kamen schließlich auf ihre Kindheit zu sprechen. 

Aufgewachsen in unterschiedlichen Ortschaften, Heinz in einer betuchten Familie, Armin im Heim. Seine Eltern hatten ihn schon früh ins Heim abgegeben. Wohl ein paar Wochen nach der Geburt. Er wusste nicht, wer seine richtigen Eltern seien. Er hatte sie nie getroffen. Sie wollten nicht. Doch sie schickten ihm einst ein Foto von sich ins Heim. Damals, zu seinem Geburtstag.

Heinz wollte wissen, wann Armin geboren wurde. Er sagte am 8. Februar 1937. 

 

Heinz war ein wenig erleichtert. Erst kürzlich hatte er in einer Fernsehsendung etwas über zwei Brüder gesehen, die jahrelang im selben Haus wohnten, aber nicht wussten, dass sie Brüder waren. Heinz hatte nämlich am 7. Februar Geburtstag. 1937. 

 

Armin kramte eine Brieftasche aus seiner Bauchtasche hervor. Er griff nach einem Foto und holte es raus. In dem Moment durchzog ein Gedanke Heinz´ Hirn und ließ einen Schauer über seinen Rücken laufen. Was, wenn ich um kurz VOR Mitternacht und Armin um kurz NACH Mitternacht geboren wurde, dachte er?

 

„Hier, schau, dass sind meine Eltern“, sagte Armin und gab Heinz das Foto. Wenn Heinz nicht gesessen hätte, wäre er bestimmt umgekippt. Auf dem Foto waren seine Eltern. Heinz´ Eltern. Die beiden waren also nicht nur Brüder, sondern sogar Zwillingsbrüder. 

So wie ihr.

 

Max und Benjamin schauten sich in die Augen. Die Geschichte war zwar nicht so gruselig, aber unheimlich war sie doch.

 

„Heinz und Armin lagen sich in den Armen und weinten. Armin zog bei Heinz ein und die beiden holten ihre gemeinsame Zeit nach. Sie unternahmen viel, redeten viel. Heinz nahm Armin nun auch immer zu den Treffen mit seinen Kumpels mit. Die beiden hatten noch tolle Jahre, bis Armin dann verstarb.“

 

„Ach Opa, hättest du das Ende nicht weglassen können?“, fragte Max leicht vorwurfsvoll.

 

„Kommt mal ganz nah zu mir, Jungs.“

Max, Benjamin und Opa steckten die Köpfe zusammen.

 

„Ich verrate euch jetzt etwas. Ihr seid die einzigen, die es dann wissen und ich möchte, dass es so bleibt.“

Die Jungs gaben ihr Wort und Opa wusste, dass sie es nicht brechen würden.

 

„Dieser Heinz aus der Geschichte, der war ich. Die Geschichte war real. Sie war echt.“

 

Die Zwillinge konnten nicht glauben, was sie da hörten.

„Deshalb bitte ich euch: genießt die Zeit miteinander und seid füreinander da. Ihr habt aber auch noch Luisa, die ihr nicht ausschließen dürft.“

Die Jungs blickten zu ihrer schlafenden Schwester, schlugen ihre Fäuste gegeneinander und nahmen ihren Opa in den Arm.