Von Agnes Decker

Für einen Moment treffen sich ihre Blicke im Rückspiegel. Ganz kurz nur tauchen zwei Augenpaare ineinander. Ein helles, blaues und ein dunkles, fast schwarzes. Das erste gehört Steff, dem schwummerig wird und der glaubt, noch nie so tief in einen anderen Menschen hineingeschaut zu haben. Ohne etwas zu erkennen. Und trotzdem das Gefühl hat, eingetaucht zu sein in ein anderes Leben. Steff ist verwirrt. Er dreht das Radio lauter und singt leise mit. Obwohl er den Song hasst. Zutiefst. Beim Singen entdeckt er, dass er den Text auswendig kann. „It`s my life“, schmettert er und stellt ärgerlich fest, dass es ihm Spaß macht.

 Vorsichtig blickt er erneut in den Rückspiegel.  Die Frau schaut aus dem Fenster. Inmitten des großen schwarzen Tuches, das den gesamten Körper verhüllt, ist nur ein kleines Rechteck frei. In dessen Mitte glänzen ihre unergründlichen dunklen Augen, die Steff zum Erzittern brachten.

„Airport“, hatte sie beim Einsteigen fragend gesagt und mehrmals wiederholt. „Airport, Airport.“ „Yes, Lady“ hatte Steff geantwortet und sich dabei lässig und cool gefühlt. Eine Fahrt zum Flughafen lohnt sich für ihn auf jeden Fall. Dort würde er auch keine Probleme haben, eine Anschlußfahrt zu bekommen. Das fängt ja wunderbar an. Steff denkt an den gestrigen Tag, den er, bis auf wenige Kurzfahrten, wartend am Taxistand verbracht hatte. Frustriert war er nach Hause gefahren. Sie brauchen das Geld so dringend, Mia, Carla und er.

Steff tritt auf die Bremse. Auch diese Ampel ist rot. Köln ist eine Stadt der roten Ampeln und nicht nur das. In der Regel bewegt man sich im Stopp-and-Go-Rhythmus von einem Stau zum nächsten. Und er muss auf dem Weg zum Flughafen auch noch den Rhein überqueren. Auf den Brücken geht um diese Zeit fast gar nichts mehr. 

„Sorry, how long?“ Die Stimme hinter ihm dringt laut in sein Ohr. Im Gegensatz zu den samtigen, warmen Augen ist die Stimme hart. Wie Stahl und eiskalt. Ein Schauer läuft ihm über den Rücken. „Don´t know“, nuschelt Steff. „Rushhour, you know?“ Hinter ihm bleibt es still.

Die Ampel ist auf grün gesprungen und die Autoschlange setzt sich Wagen für Wagen wieder in Bewegung. Mia, denkt Steff und sein Herz wird groß und weit. Ein Lächeln breitet sich in ihm aus, erreicht seine Augen und lässt sein Gesicht erstrahlen. Mia. Das Beste, was mir je passiert ist. Steff denkt daran, wie sie ihn heute Morgen mit verschmiertem Mund angeschaut hat. „Papa, lieb“, hat sie laut gerufen und immer wieder:  „Papa lieb.“ Carla hat ihn über die Zeitung hinweg angeschaut, mit diesem erschöpften, vorwurfsvollen Blick. In seinem Herzen hat es einen Stich gegeben, so als würde jemand eine Nadel hineinbohren, und es hat weh getan. Der Schmerz ist immer noch spürbar. Steff hat Angst, dass er nie mehr aufhören wird. Seit Mia auf der Welt ist, hat Carla diesen Blick und er diesen Schmerz. Das ist ihre einzige Verbindung. Außer Mia.

„Sorry, how long?“ Die Stimme hinter ihm ist fordernd. Steff schreckt aus seinen Gedanken auf. Sie haben jetzt die Zoobrücke erreicht. Wie zu erwarten, staut sich auch hier der Verkehr.  „Rushhour, Lady, sorry“, murmelt er, „don`t know.“ Im Rückspiegel sieht er, wie die Frau sich den Schleier zurecht zupft. Ihre Handbewegungen sind fahrig. Vielleicht hat sie Angst, ihr Flugzeug zu verpassen. „What time, the aeroplane?“ Mein Englisch ist wirklich miserabel, Steff schaut erwartungsvoll in den Spiegel, aber die Frau antwortet nicht. 

 

Steff öffnet das Fenster und legt lässig seinen Arm in die Öffnung, so dass seine Tätowierungen gut sichtbar sind. Das sieht bestimmt sexy aus, denkt er und stellt das Radio lauter. Schade, dass Carla darauf keinen Wert mehr legt. Carla, wie sehr hatte er sie begehrt, die kühle Blonde, die im Hörsaal zwei Reihen vor ihm saß und was hatte er nicht alles unternommen, sie zu erobern. Er spürt, wie sich sein Mund zu einem breiten Grinsen verzieht. Die Lust war kurz, aber heftig. Dann kam die Schwangerschaft. Zum Psychologen hat es dann nicht mehr gereicht. Carla hatte der Abbruch des Studiums schwer getroffen, ihm kam es fast gelegen. Taxifahren war schon immer sein Traumjob.

„Achtung, Kollegen.“ Die Stimme aus der Zentrale dröhnt durch den Ohrstöpsel in sein Gehirn. „Wer hat Fahrgastaufnahme am HBF? Polizei sucht verdächtige Person, arabischer Herkunft. Vermutlich bewaffnet. Bitte sofort verdeckt melden und, Kollegen, seid bitte vorsichtig.“

Die Frau sitzt unbeweglich da und schaut aus dem Fenster. Die Frau? Wer weiß, vielleicht steckt ja auch ein Kerl unter den ganzen Klamotten. Schweißtropfen laufen über Steffs Stirn und tropfen brennend in seine Augen. Er drückt die Tasten, von denen er gehofft hatte, sie nie aktivieren zu müssen. „Standort?“ Die Stimme klingt beruhigend in seinem Ohr. Die Zentrale hat sofort geschaltet. Er gibt den Namen der Autobahnauffahrt in das verdeckte Tastenfeld ein.  Hoffentlich ist die Frau auf dem Rücksitz nicht aufmerksam geworden. „Die Polizei wird gleich da sein, ein Wagen hinter dir, einer wird dich überholen. Sobald der Wagen vor dir auftaucht, bremst du, fährst auf den Seitenstreifen und verlässt sofort das Auto. Alles Gute, Steff.“ Die Stimme verklingt und er fühlt sich plötzlich so alleine, wie noch nie in seinem Leben.

Steff schaut in den Spiegel. Erschreckt kneift er die Augen zusammen. Der Spiegel ist leer. Wie kann das sein? Was macht die da hinten? Solange er sie sehen konnte, hatte er das Gefühl der Kontrolle. Das ist jetzt völlig weg. Die Angst breitet sich wie eine Welle in ihm aus. Gedanken kreisen in seinem Kopf, seine Hände zittern. Steffs Blick hängt wie festgeklebt am Rückspiegel. 

„ Attention“, zischt die kalte Stimme in sein Ohr. Gleichzeitig legt sich eine Hand auf seine Schulter. Steff tritt hart auf die Bremse. Jetzt wäre er fast auf das vor ihm fahrende Auto aufgefahren. Er muss sich konzentrieren, nichts anmerken lassen. Für Mia, ja für Mia muss er sich zusammen reißen. Er will sie doch aufwachsen sehen. Als stolzer Vater am ersten Schultag ihre Tüte tragen, sie am Arm zum Abschlussball führen und später einmal in die Kirche. Er sieht sie vor sich, in ihrem weißen Kleid, jung und wunderschön. Mia, ich komme nach Hause, das verspreche ich dir. Ich bin doch dein Papa, mein Schätzchen.

Der Verkehr hat sich nun auch auf der Autobahn verdichtet und es geht fast gar nichts mehr. „What time, aeroplane“, fragt er noch einmal. Aber er bekommt auch dieses Mal keine Antwort. Die Gestalt auf dem Rücksitz hat den Kopf geneigt. Aus dem Augenwinkel sieht Steff ein Aufblitzen. Jetzt, denkt er, jetzt nimmt sie das Messer und … Ach Quatsch, überlegt er, hier kommt sie doch gar nicht weg, weder zu Fuß noch mit dem Auto. Warum sollte sie mich ausgerechnet hier umbringen? Dass es sich um eine Frau handelt, davon ist Steff mittlerweile überzeugt. Die Stimme. So eine Stimme kann kein Mann haben,  so hoch und, wenn man sich die Kälte in ihr wegdenkt, unglaublich sinnlich. Was denke ich da? Steff wischt sich über die Stirn. Wieder dieses Aufblitzen. Ob sie das Messer bereit hält, um es später einzusetzen? Am Flughafen vielleicht? Aber warum. Dann hat sie doch ihr Ziel erreicht und braucht ihn nicht mehr. 

Oh Mann, wo bleibt denn bloß die Polizei? Wahrscheinlich kommt sie bei diesem Verkehr überhaupt nicht durch. Selbst mit Blaulicht ist das ja auf der Autobahn kaum noch möglich. Der Begriff Rettungsgasse ist für viele Autofahrer ein Fremdwort. Ärger steigt in Steff hoch. Diese bescheuerten Autofahrer, Steff spürt, wie er sich in diesen Ärger hineinsteigert. „Fucking cardriver“, Steff haut mit der Hand aufs Armaturenbrett. Die Frau im Rückspiegel zwinkert mit den Augen. Es sieht aus, als würde sie lächeln. Und er lächelt zurück. Der fremden Frau zu. Der Terroristin mit dem Messer. 

„Steff, gib` ein Lebenszeichen. Es dauert noch. Die Polizei kommt nicht durch. Aber sie sind nahe an dir dran. Das wird. Wir holen dich.“ Die Stimme in seinem Ohr lenkt seine Konzentration wieder nach vorne.  Steff merkt, wie er sich entspannt, die Angst nachlässt. Terroristen lächeln nicht, wiederholt er in seinem Innern, immer wieder und wieder. Sie lächeln nicht, meine Mia, niemals.

Wieder dieses Aufblitzen. Die Frau im Spiegel hat die Hand gehoben. Hilfe, denkt Steff, lieber Gott hilf mir. Bitte, bitte nicht. Erstarrt schaut er nach vorne. Die Autos setzen sich langsam wieder in Bewegung. Er wartet. Spürt schon den kalten Stahl an seinem Hals.

Hinter ihm spricht die Frau in einer fremden Sprache in ihr Handy. Wie ein Maschinengewehr rattert sie die Worte herunter. Steff sinkt erschöpft in seinen Sitz zurück. Das hatte also aufgeblitzt in der Sonne. Kein Messer, ein Handy. Ein scheißnormales Handy, denkt Steff, ein Handy, Mia, nur ein Handy, Kleines.

Die Frau hat aufgehört zu sprechen. Bestimmt hat sie Bescheid gesagt, dass sie das Flugzeug verpassen wird. Erleichterung macht sich in ihm breit. Aber warum hat sie auf seine Frage nicht geantwortet? Als er sie fragte, wann sie am Flughafen sein muss. Steff spürt, wie das Zittern wieder anfängt und nach und nach seinen gesamten Körper in Besitz nimmt. 

Im Spiegel sieht er den Polizeiwagen, der sich mühsam durch den Stau drängt. Da sind sie, Kleines, denkt Steff, keine Angst, die Polizei ist da. Die Polizei, dein Freund und Helfer.

Die Frau auf dem Rücksitz kramt in ihrer Tasche. Zwischen der Polizei und dem Taxi ist nur noch ein Kleinwagen, der jetzt zur Seite fährt. Die Frau dreht sich um. Sie hat ihn gesehen, sie hat den Streifenwagen gesehen. Steffs Hände umklammern das Lenkrad. 

Die Blicke treffen sich im Rückspiegel. Ihre Augen sind dunkel und schimmern wie nasser Samt. Er taucht tief hinein, sieht Entschlossenheit und Härte. Sie wird es tun, schießt es ihm durch den Kopf. Jetzt wird sie es tun. Alles geplant. Die Polizei, sein Tod, alles Ablenkung. So, wie sie es immer tun.  

Die Frau hinter ihm hebt die Hand. Er starrt auf das, was sie hoch hält. Die Detonation, die den Wagen zerbersten lässt, hört er wie aus weiter Ferne. Ich liebe dich, Kleines, denkt Steff. Dann wird alles dunkel.

 

Version 3