Von Claudia Nierste

Kari stand vor dem Spiegel im Badezimmer der WG und zählte die Flecken auf ihrer Iris, als sich draußen auf dem Flur der Schatten an der Wohnungstür bewegte. Es war keine große Veränderung. Nichts Weltbewegendes. Sie hätte es nicht einmal bemerkt, wenn sie nicht ohnehin ein Auge auf die große Uhr gehabt hätte, die direkt über der Garderobe hing. In einer halben Stunde war sie mit ihrer Freundin im Café verabredet, und sie musste vorher noch einkaufen. Sie runzelte die Stirn, blinzelte einmal und zuckte dann mit den Schultern. Wahrscheinlich war der Schatten nur dem Lauf der Sonne gefolgt, die draußen vor dem Fenster weitergewandert war. 

Sie hielt endlich die Hände unter den Wasserstrahl und rieb sich übers Gesicht. Direkt unter dem Haaransatz fühlte sich die Haut klebrig an. Fast schon wachsartig. Sie stutzte und fuhr mit den Fingern erneut darüber. Seltsam, das war ihr vorher nie aufgefallen. 

Ob sie vielleicht doch die Creme benutzen sollte, die ihre Tante ihr bei ihrer letzten Begegnung verschwörerisch zugesteckt hatte? Der kleine Badezimmerschrank öffnete sich, bevor sie richtig darüber nachdenken konnte. Beim letzten Treffen mit ihrer Freundin hatten sie noch gemeinsam darüber gelacht, wie erschrocken die Tante gewesen war, als sie die kleinen Pickel an Karis Schläfe gesehen hatte. Sie hatten zusammen im Café gesessen und sich gekringelt bei der Vorstellung, dass der Gedanke an die gelegentlichen Ausbrüche auf ihrer Stirn der Tante in solchem Ausmaß den Schlaf geraubt hatten, dass sie sofort losziehen und dieses mit eleganten weißen Lettern verzierte Döschen kaufen musste. Jetzt fischte sie im Schrank danach, fand es endlich hinter einem Stapel Waschlappen und zwei angebrochenen Tuben Zahnpasta und rieb sich die Creme kurzentschlossen aufs Gesicht. Es konnte ja nicht schaden.

 

Im Supermarkt war die Klima-Anlage ausgefallen, und zum ersten Mal, seit sie denken konnte, wunderte Kari sich über das, was sie sah. Hautfalten und Speckröllchen quollen ihr aus jeder Richtung entgegen. Es musste das erbarmungslose Licht aus den Leuchtstoffröhren über ihren Köpfen sein, das sie alle aussehen ließ wie aus dem Bau gescheuchte Wühlmause. Sie sah eine dralle Hand, die nach den Steckrüben auf der Auslage griff, und zog sich reflexartig die Ärmel über die eigenen Handgelenke. Schnell in den nächsten Gang, wo sie niemand sah. Sie füllte den Einkaufskorb, so schnell sie konnte, und machte, dass sie wegkam. 

An der Kasse dann wanderte ihr Blick ständig zum Ausschnitt der Aushilfe, die offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als sich bei jedem Abwiegen viel zu weit nach vorne zu beugen und dabei ihre teigigen Brüste auf dem Tischchen vor sich abzuladen. Kari zwang sich zu einem Lächeln, stopfte ihre Einkäufe in die Tasche und floh auf die Straße. Mit einem Unwohlsein, das sie sich nicht erklären konnte, lief sie weiter in Richtung Innenstadt und wich den ihr entgegenkommenden Menschen aus. Wenn sie schon das Unbehagen nicht verstand, dann hatte sie doch gemerkt, dass deren Anblick es noch schlimmer machte. Die Henkel der Tasche gruben sich schmerzhaft in ihre Schulter, während sie die Fußgängerzone durchquerte, und sie wünschte sich fast, sie hätte doch den Rucksack genommen, auch wenn der Gedanke ihr dumm vorkam. Keine andere Frau in ihrem Blickfeld trug etwas so Kindisches wie einen Rucksack. 

 

Am Fitnesscenter war sie schon hunderte Male vorbeigelaufen. Dabei hatte sie die schwarzen Geräte im Fenster immer mit einem lustvollen Gruseln betrachtet und sich vorgestellt, eine bislang unbekannte Spezies von außerirdischem Leben hätte sie in einer dunklen Nacht auf die Erde gebracht und sie einfach inmitten eines Kornkreises zurückgelassen, mit nichts weiter als ein paar Aufklebern und kruden Zeichnungen, die ihren Gebrauch erklären sollten. Sie hatte sich vorgestellt, wie die Aliens eines Tages zurückkehren und sie alle auf ihre Fähigkeiten im Umgang mit diesen seltsamen Apparaten prüfen würden. 

Jetzt hatte sie keinen Blick für das schwarze Metall übrig. Stattdessen wurden ihre Augen fast schon zwanghaft von den Leibern angezogen, die sich auf den Geräten bewegten, in engen Hosen und Sport-BHs oder schlabbrigen T-Shirts, mit denen ihre Besitzerinnen sich vorgaukelten, ihre ausladenden Hüften und den Bauchspeck verbergen zu können. Kari schnaubte innerlich und zerrte am Henkel der Tasche, was den Schmerz jedoch nur für einen Moment verschwinden ließ. Was machten die sich vor? Warum stellten sie sich überhaupt ins Fenster, während sie schwitzten und mit rotem Gesicht in die Pedale traten, obwohl sie dort jeder sehen konnte? Sie brauchte eine Pause von diesem bescheuerten Tag. Warum war sie überhaupt so dumm gewesen, in einer derart peinlichen Verfassung das Haus zu verlassen? Sie hievte die Tasche auf die andere Schulter und stapfte den Weg hinter dem Einkaufszentrum entlang. 

 

Auch das Café hatte ein großes Fenster zur Straße, hinter dem Kari sich sonst eigentlich immer gerne von der Sonne bescheinen ließ. Ihre beste Freundin scherzte oft, dass so auch die Getränke länger warm blieben. Als sie diesmal die Tür aufschob, waren jedoch sämtliche Sonnenplätze bereits besetzt. Fette Ärsche in Pellen aus Jeansstoff ließen die schmalen Stühle ächzen, hängende Titten drückten sich gegen die zierlichen Tischchen, monströse Wurstfinger grapschten nach schneeweißen Porzellantassen. Eine Herde von Elefantenkühen, die brabbelten, gackerten und lautstark schlürften. Was dachten die sich eigentlich? Was–?    

„Kari, hey!“

Ihre Freundin winkte ihr aus der Ecke heraus so wild zu, dass ihr Oberarm tanzte wie der Blubber eines Wals. Auf Karis Haut brach ein Kribbeln aus, als sich alle Köpfe im Café ihnen zuwandten. Dass sie einfach so durch den Raum rief, während sie dort auf ihrem Stuhl hing, die Schultern krumm und der Nacken gebeugt, das Shirt am Rücken hochgerutscht, sodass jeder den Streifen bleicher Haut sehen konnte, und die fleckigen Beine im kurzen Rock überschlagen. Die Leute würden noch denken, dass sie es in Ordnung fand, wie die sich aufführte, diese hässliche–

Die Tür des Cafés schlug so heftig hinter ihr zu, dass das Glas klirrte. Ein Aufschrei schaffte es noch auf den Bürgersteig hinaus, doch Kari hörte ihn schon nicht mehr. Sie rannte, warf die Tasche ab und kümmerte sich nicht darum, dass die Kekse zerbrachen und die Äpfel in alle Richtungen davonsprangen. Ihre Sohlen klatschten auf den Asphalt, dann rutschten sie über den Rasen vor dem Reihenhaus. Drei Stufen auf einmal nehmend hetzte sie die Treppe zur Wohnung hinauf, fummelte den Schlüssel aus der Tasche, sperrte auf und stürzte aus dem Flur direkt ins Badezimmer. 

Zum Spiegel. 

Da war es, ihr Gesicht. Rot und weiß von der überstürzten Flucht, die Haare hingen ihr schweißnass in die Stirn. Ein Blinzeln später war all das verschwunden.

Im Spiegel blickte sie eine junge Frau an, die mit der Zungenspitze zwischen den Lippen konzentriert in die eigenen Augen blickte. Dann plötzlich drehte sie den Kopf zur Seite und sah einen Moment lang aus der geöffneten Badezimmertür auf den Flur hinaus. Der Spiegel beschlug von Karis heftigem Atem, doch die Frau schien davon nichts zu merken. Sie runzelte die Stirn, blinzelte einmal und zuckte dann mit den Schultern. Wusch sich das Gesicht, tastete im Badezimmerschrank nach einem Döschen und cremte sich die Stirn ein. 

Kari konnte nur zusehen, wie sie einen letzten kritischen Blick in den Spiegel warf, bevor sie das Licht ausschaltete, die Tür hinter sich schloss und vollkommene Dunkelheit zurückließ.