Von Kate Rogers
Ich stehe unentschlossen vor dem Spiegel in meinem Zimmer. Ich blicke mich an und sehe mich doch nicht wirklich. Was ich genau erkennen kann, ist mein Zimmer. Seufzend drehe ich mich um. Alles sieht aus wie immer. Zwei Wände in Schwarz, die anderen beiden in Grau gestrichen. An den Wänden Fotos von meinem Lieblingssänger, von meinem Hund. Sonst nur ein paar Lichterketten. So, wie ich es gewollt habe. Meine Mutter hat Angst gehabt, das würde mich depressiv machen. Vor allem machen, dass ich nicht lache. Sie hat keine Ahnung. Von nichts. Mein Vater war auch dagegen, aber der ist aus Prinzip gegen alles, was ich mache. Von dem kommt nie ein positives Wort – alles, was der kann, ist kritisieren. Mein Zimmer, mein Aussehen, dass ich zu viel und zu lange Fernsehen gucken. Der nervt voll. Der alte Kotzbrocken.
Würde meine Mutter mit mir in den Spiegel sehen, käme da sicherlich eine ganz andere Beschreibung. Sie würde sagen: „Du bist doch ein hübsches Mädchen. Ich wünschte, ich hätte jemals deine langen schönen Haare gehabt. Du bist klug, ehrgeizig, fleißig und strebsam. Sportlich bist du auch. Du bist nicht zu dick und nicht zu dünn – genau richtig. Ich verstehe nicht, wieso niemand mit dir befreundet sein will. Irgendetwas machst du falsch.“
Sie hat bestimmt Recht. Ich mache was falsch. Sende die falschen Signale. Aber ich bin schon so oft enttäuscht worden, dass ich jetzt niemandem mehr vertrauen kann. Ich habe Schiss wieder verletzt zu werden. Damit ich nicht vor Langeweile sterbe, lerne ich. Deshalb schreibe ich gute Noten. Aber Fun – nein, den hatte ich schon sehr lange nicht mehr.
Ich habe es mit Sport versucht. Zuerst mit Reiten, Pferde verurteilen einen wenigstens nicht. Aber dann hat meine Mutter dafür gesorgt, dass meine kleine Schwester mit in meiner Gruppe reiten konnte. Die ist vier Jahre jünger als ich und total die Nervensäge. Die anderen Mädchen in der Reitgruppe waren auch alle so alt wie meine Schwester. Eine Reitgruppe aus kleinen piepsigen und ständig labbernden Biestern. Da hatte ich keinen Bock drauf. Ich bin immerhin schon 14 und die sind gerade erst 9 oder 10 Jahre alt gewesen. Die kommen für mich, von einem anderen Planeten, ach was rede ich, aus einer anderen Galaxie. Dann habe ich es mit Handball versucht. Zusammen mit einer Klassenkameradin habe ich mich im Handballverein angemeldet. Sie war schnell drin – im Team. Ich war wieder nur außen vor. Vielleicht kommen doch falsche Signale von mir?
In meiner Freizeit lese ich, ich schreibe Geschichten und gucke Netflix. Ich höre Musik, auch schon mal laut, wenn es mir gerade mal besonders schlecht geht. Die Lautstärke – ein Spiegel meiner Seele. Meine Mutter sagt nichts. Sie macht ihre eigene Musik an, dann hört sie meine nicht mehr. Letztens waren wir sogar zusammen beim Konzert von einer meiner Lieblingsbands. Das war ganz nice. Endlich mal Action in meinem Leben. Nicht immer nur Schule, Lernen, Klassenarbeiten und alles wieder von vorne.
Ferien sind cool. Dann muss ich die Vollpfosten aus meiner Klasse nicht mehr sehen. Dann kann ich machen, was ich will. Wir fahren auch immer in Urlaub – in Deutschland. Auch nichts, was andere beeindruckt. Meine Klassenkameraden fahren nach Mallorca, New York, Italien, Frankreich, London, Griechenland und was weiß ich wohin. Und wir – wir fahren in den bayerischen Wald. Jippieh!!!
Ja, es ist ganz schön da, aber es interessiert keinen. Jeder postet Fotos von sich und tollen Locations in Whatsapp und auf Instagram und ich, ich poste – nichts. Fotos von mir darf ich nicht posten. Und niemand unter 65 würde sich für Fotos vom „Kleinen Arbersee“ interessieren.
Sind meine Eltern schuld, dass ich nicht akzeptiert bin in meiner Klasse? Sind sie zu streng? Verbieten sie mir zu viele Dinge, die heute für alle selbstverständlich sind? Ich war die letzte in meiner Klasse, die ein Smartphone bekam. Da war ich schon fast elf. „Poste nichts, was du nicht auch in Postergröße ins Klassenzimmer hängen würdest!“. Wie oft hat meine Mutter mir das gepredigt. Mittlerweile will ich das auch gar nicht mehr. Wer will schon Fotos von mir sehen? Meine Klassenkameraden sicher nicht und ein öffentliches Profil erlauben meine Eltern nicht.
Ich wende mich wieder dem Spiegel zu. Ich sehe – mich. Aber wenn ich mich ansehe, ist da nichts, was ich sehen möchte. Ich finde mich nicht schön, ich mag mich nicht mal. So wie die anderen aus meiner Klasse. Die mögen mich auch nicht. Niemand spricht mit mir. Es sei denn, sie haben Probleme mit den Hausaufgaben. Dafür bin ich gut genug. In Whatsapp-Nachrichten an mich geht es immer darum. Wenn jemand gar nicht mehr weiterkommt, werde ich sogar angerufen. Ich erkläre dann immer alles und versuche zu helfen. Aber mir, mir hilft das nicht. Deshalb mag mich trotzdem keiner. Niemand fragt, wie es mir geht. Doch meine Mutter, aber die lüge ich immer an und sage: „Ach, es geht schon“, oder „es geht mir gut.“ Die Wahrheit kann ich ihr nicht sagen. Das geht einfach nicht. Was soll ich ihr auch sagen? Dass sich keiner für mich interessiert und es nicht einen einzigen Mitschüler in meiner Klasse gibt, den ich als Freund bezeichnen würde? Dass ich immer nur dabei bin, nie mittendrin? Dass ich einsam, mutlos, lustlos und verzweifelt bin? Dass in mir nichts mehr ist außer Leere und Verzweiflung? Nichts macht mir Spaß, alles ist grau, schwarz, trostlos. Und das liegt nicht an den Wänden in meinem Zimmer. Das war auch schon vorher so.
Als sich in den letzten Ferien niemand mit mir treffen wollte, sie sich aber mit anderen treffen konnten und sie bei mir keine Zeit hatten, habe ich zwei Klassenkameradinnen einen Brief geschrieben. Darin stand, wie es mir geht. Dass ich gerne mit ihnen befreundet wäre und ich nicht verstehen kann, warum sie sich nie mit mir treffen. Dass es mir schon so schlecht deswegen geht, dass ich nicht mehr leben möchte. Auch das hat nicht geholfen. Die einzige Reaktion war eine kurze Nachricht über Whatsapp. Unpersönlich und ohne auf den Brief einzugehen. Geholfen hat der Brief nicht. Sie fragen mich immer noch nicht, ob ich nicht mal mit möchte, wenn sie sich zum Eis essen treffen oder zum Shoppen. Es ist als wäre ich nicht da. Sieht mich jemand? Hört mich jemand? Bin ich noch da?
Ich blicke wieder in den Spiegel, mein Bild verschwindet wird unscharf, grau, schwarz und verschwindet schließlich ganz.
Nein – heute ist der Tag an dem das aufhört. Ich kann gar nicht sagen, was an diesem Tag so besonders schlimm ist . Aber jetzt reicht es. Es muss sich was ändern. Ich will nicht mehr alleine in meinem Zimmer hocken und auf tolle Erlebnisse warten.
Ich öffne den Schrank, in dem ich die Tabletten verstecke, die ich aus dem Medikamentenschrank meiner Eltern gestohlen habe. Niemand hat davon etwas gemerkt. Ich hole sie raus, Paracetamol, Vomex A, Dicolfenac und wie sie alle heißen. Ich öffne die Packungen. Hoffentlich sind es genug…
Version 3