Von Uta Lemke

Sie sagen: „Augen sind die Spiegel der Seele“.

Für die meisten Menschen ist das nur ein Sprichwort. Klar sehen Augen nicht alle gleich aus. Es gibt grüne Augen, blaue Augen, braune Augen, graue Augen, manche werden als kalt wahrgenommen, manche als warm, Magazine schreiben Braunäugigen Gutmütigkeit und Führungsfähigkeiten zu und sagen Blauäugigen Schmerzimmunität nach. Doch die Seele, den Grund seiner Selbst in den bloßen Augen finden? Das halten die meisten nur für schöne, irgendwie romantische, Vorstellung.

Ich nicht. Seit ich denken kann, finde ich in den Augen meiner Mitmenschen so viel mehr. Was sie im Innersten zusammenhält, was sie beschäftigt, was sie geformt hat, was sie fühlen, was sie träumen, was ihr Herz schneller schlagen lässt, vor Freude oder vor Angst. Wenn ich für einen Moment in ihre Augen sehe, dann ist das, als würde ich auf den Grund ihrer Seele sinken, immer tiefer in den Ozean ihrer Selbst, bis ich darin ertrinke, bis, für einen kurzen Moment, ich meine eigene Seele verliere und ihre annehme. Und dann blinzele ich und das Gefühl ist dahin. Fliegt davon wie ein ferner Sommerblütenduft und die Erinnerung daran wird zu diffusen Nebelschwaden.

Doch an einige Seelen erinnere ich mich so klar, als wären sie mir gerade erst begegnet. Die sanften braunen Augen eines hochgewachsenen Mannes, der in der Fußgängerzone an mir vorbeieilte und aus denen Wogen der Grausamkeit strömten, durchzogen von Einsamkeit und Selbstmitleid, von instinktivem Hass und purer Verzweiflung, blutend aus tausenden von Wunden. Wenige Tage später sah ich eine Phantomzeichnung seines Gesichts in den Nachrichten mit dem Titel: „Kaltblütiger Serienmörder gesucht. Polizei bittet um Hinweise.“

Oder an die Augen, aus denen nur Leere kam. Grausame, tiefe Leere. Immer, wenn ich diese Seelen fühle, will ich voller Panik davon laufen, oder die Menschen schütteln und anschreien, „Fühl doch etwas, fühl doch irgendetwas!“ Manche von ihnen schieben Kinderwägen vor sich her, manche halten die Hand eines anderen Menschen, während sie sich durch die Menschenmassen schlängeln, manche sitzen in einem Kaffee an einem einsamen Tisch und starren auf die halbleere Kaffeetasse vor ihren Augen, manche stehen auf dem Brückengeländer und drehen sich noch ein letztes Mal um, bevor sie den Schritt tun.

Manchmal würde ich es gerne ausblenden können. Einfach die Augen schließen und solange nicht mehr öffnen, bis alle menschlichen Augen aus meinem Blickfeld verschwunden sind. Manchmal fühlt es sich so an, als müsste ich nicht nur das Gewicht meiner eigenen Seele tragen, sondern hundermillionen andere dazu. Auch wenn die Erinnerungen verblassen, sie alle hinterlassen etwas. Einen kleinen Stich. Eine kleine Wunde. Manchmal eine große. Sie zeichnen mich, formen meine Seele, machen mich zu dem, was ich bin.

Zum Beispiel gibt es nichts Grausameres, denke ich manchmal, als zu sehen, wie sich die Seele meines Geliebten von voller Unbeschwertheit und jugendlicher Liebe zu tiefdrückender Betrübtheit, zu Resignation, ja gar Hass wandelt. Wie die Wärme in seinen Augen zu Kälte wird und eines Tages zu Leere. Und nichts, rein gar nichts deutet darauf hin, außer seine Seele. Niemand merkt es, nur ich spüre, wie es langsam zu Ende geht.

Ich will nicht mehr sehen können. Ich will, dass die Spiegel der Seele trüb werden für meine Augen. Und dennoch…

Dennoch gibt es Momente wie diesen hier. Wir liegen in einem wunderbarweichen Bett, der Blick durchs Fenster zeigt die weite Welt, schneebedeckte Berge und grüne Täler und sie beugt sich vor und küsst mich und als sie die Augen wieder öffnet, spiegelt sich die Sonne in ihnen. Und dann fragt sie mich: „Wenn du in meine Augen schaust, in meine Seele hinein, was siehst du dann?“

Zuerst erfüllt mich diese Frage mit kalter Angst, zu oft wurde sie mir schon gestellt, zu oft habe ich nicht sehen wollen, aber doch gesehen. Aber dann richte ich meinen Blick nach oben und sehe in den Spiegel ihrer Seele und dieses warme Gefühl erfüllt mich, streicht durch jede Pore meines Körpers und auf einmal bin ich ganz leicht, fliege durch Wolken von Glück. Ich hole tief Luft, atme ein, atme aus. Am Ende bringe ich vor lauter Überwältigung nur ein einziges Wort heraus und es tanzt durch die Luft wie die Staubkörner über unserer Haut:

„Wunderschön“.