Von Ralf Rodrigues da Silva

Die ganze Welt stand mir von nun an offen. Unerwartet und doch geplant. Und sie war im besten Sinne von einem Moment auf den andern aus den Fugen geraten. Ungestüm und waghalsig umkragte sie mein neues Leben und hatte soeben den „Roten Teppich“ vor mir ausgelegt. 

 

Und ich?

 

Kaltschnäuzig die Grenzen des Erlaubten überschreitend, hatte ich beschlossen, ihn nicht mit Füßen zu treten: Nein, ich wollte das Blitzlichtgewitter auf ihm genießen, endlich den Applaus einheimsen und nutznießerisch Erfolge feiern.

 

„Yes, yes, yes, Silikon Valley, ich komme! Herrgott, ich werde Dir ewig dankbar dafür sein“, sprudelte es sakrosankt aus mir heraus. Und mir war klar, daß ich  einen derartigen Schwur nur schwer würde einlösen können. 

 

Dafür war das Eisen in den letzten 1,5 Stunden eine Spur zu heiß geschmiedet worden“, kartete mein „Zweites Ich“ ernüchtert nach.

 

Unerbittlich klopfte es an die Tür meines schlechten Gewissens. Doch ich hatte keins. Jedenfalls jetzt gerade nicht.

 

„David, da ist Dir mal eben ein ganz großer Coup gelungen“, streichelte stattdessen das Unterbewußtsein meine Seele. Wohlwissend, daß mich ein unredliches „Na und?!“ in diese Pole-Position katapultiert hatte…Zugegeben, ein kleiner Schönheitsfehler auf dem Weg nach oben, der sich mit etwas Glück vermutlich ebenso kunstfertig würde bereinigen lassen. Noch bevor ich auffliegen würde.

 

Auch wenn ich mir selber vorgaukelte, daß das Glück verdient und ich endlich einmal dran war, daß es am Ende schon irgendwie gut gehen würde…, – ich ahnte, der tiefe Fall würde folgen. 

 

Noch aber war es längst nicht so weit. Das galt es, auf seine Kosten auszukosten. Und die ersten passageren Effekte stimmten mich durchaus zuversichtlich.

 

Vor mir das schwere Eisengitter des rückwärtigen Bürotempels gab auf einmal viel leichter den Weg frei. Die Passanten, die meine Gehlinie auf dem Trottoir kreuzten, wichen mir spürbar frühzeitiger aus; ja, mein anverwandeltes neues Inneres hatte sich sogar die geliehene Charakterstärke zu eigen gemacht und sich strotzend der Außenwelt präsentiert. Kein Wunder also, daß ich mich zwischen Wagemut und Wichtigtuerei, zwischen „Prahlerei“ und Privileg in diesen Momenten nicht entscheiden mochte…

 

Jetzt war ich wer. Irgendwie war ich mehr ich als er! 

 

Mehr als gut vorbereitet; mit mehr von meinem „Ich“ im Gepäck als je zuvor, war ich in der Verhandlung irgendwie zu einer multiplen Persönlichkeit mutiert – Ein Günstling, angereichert mit einer Vielzahl von Attributen, die mir bis dahin eher nicht so zu eigen waren. Die aber immer schon in mir geschlummert haben mußten. Die sich buchstäblich bahnbrechend vom „Ebenbild“ zu befreien suchten, indem sie es soeben unverfroren ausgenutzt hatten.

 

Lieferant für den Nährboden meiner heutigen Chuzpe? Es waren die geschwisterlichen Versuchungen und Erfolgsgeschichten schon aus der Schulzeit, in denen wir eins ums andere mal „Tauschgeschäfte auf Gegenseitigkeit“ vollzogen hatten, weil man uns kaum auseinanderhalten konnte: Da eine kleine Mogelei in puncto An- oder Abwesenheit, hier ein minimales Täuschungsmanöver bei einer Hausarbeit oder ein unbemerktes solidarisch-fremdmanipuliertes Prüfungsergebnis. „Gelegenheit macht eben doch Diebe“…Unrechtsbewußtsein? Fehlanzeige (den Eltern sei Dank, nur ganz weit hinten – manchmal, wirklich nur ein wenig). 

 

Mehr noch waren es der Neid über die unermeßliche Begünstigung und die besonnte Sympathie gegenüber dem gleichen Anderen, der mich heute dahin getrieben hatte, seine heimlich antrainierte  Unterschrift zu kopieren und unter ein Dekret zu setzen, das ihm gegolten hatte. Das mir statt ihm einen komfortablen Vorsprung verheißt auf der Wettbewerbsumlaufbahn. Ich hatte das „Glück“, den an ihn gerichteten Einladungsbrief abgefangen zu haben und war fürs Erste triumphal an ihm vorbeigezogen.

 

Und ich hatte die „Schnauze einfach voll davon“, der ewig tugendhafte, der ewige „nice guy“, der Erfüllungsgehilfe einer unverbrüchlichen „Bromance“ und immer nur das „Schattenkind“ des sogenannten großen Bruders zu sein. „Von wegen, Blut ist dicker als Wasser…tzss!“, gärte es in mir angewidert und auch verachtend auf.

 

Ich, war bis heute eigentlich immer der geblieben, der dauernd nur daran gemessen wurde, ob er als Zweitgeborener mit 5-Minuten Rückstand sich selbstähnlich bleiben konnte oder doch dem eineiigen Zwilling nacheifern sollte; mehr noch: Ich hatte ihm nach Möglichkeit nachgerade unwidersprochen zu entsprechen! Jedenfalls, wenn die mythenhafte Integrität und vielbeschworene Intimität von fruchtblasenverwandten Seelen ebenso wie von geradezu heilig gesprochenen Elternsonderlingen für Dritte unangetastet bleiben soll.

 

Endlich. Befreit!

 

Und die namentliche Nähe zwischen dem ach so großartigen Davidoff und mir, es hatte meine „kleinkriminelle“, hinterlistige Aktion zusätzlich befüttert und auch vereinfacht. 

 

Es war mir leicht gefallen, in die buchstabenhafte Verlängerung und damit auch irgendwie „über seine Leiche“ zu gehen. 

 

Und zum ersten mal spiegelte sich vor meinem geistigen Auge bereits im Schriftbild die visuelle Entsprechung der unparadiesischen Vertreibung durch einen Abtrünnigen: David.off!

 

Ein kompromissloser – vielleicht nur vorläufiger – Schlusspunkt war gesetzt.

 

Ich würde vorerst in den Schuhen meines Bruders über den „Red Capet“ laufen.