Von Renate Müller

„Das bin nicht ich“, dachte sie. 

Das Gesicht im Spiegel war zerfranst, zerfasert. Zerschlissen wie ein antiker Gobelin. 

Diesmal war es das Salz gewesen. Das Salz im Streuer, es war verklumpt. Er hatte ihr das Salzfass an den Kopf geworfen, so fest, dass sie nach hinten vom Stuhl kippte. 

Bernd.

Er hatte sich auf sie gestürzt: „Du bist zu blöd, um für trockenes Salz zu sorgen. Wer bezahlt das Salz? Du lebst von meinem Geld. Und was stellst du mir hin? Das Zeug kannst du gefälligst selbst fressen.“ Jedes seiner Worte war spitz und scharf wie seine japanischen Sushi-Messer und drang genauso tief in ihre Seele wie das Messer in den Fischleib.

Zu jedem Wort gab es als Begleitmusik einen Fausthieb. Es war ihm egal, wohin er schlug. Gesicht. Magen. Brüste. Kehle. Er drosch auf sie ein wie von Sinnen. Dabei hatte er durchaus alle seine Sinne beisammen. Er schlug nicht einfach so, im Affekt und ohne Sinn. Er schlug bewusst, gezielt und mit voller Absicht.

Erziehung nannte er das.

Vor dem Salz war es das Kehrblech gewesen, das scheppernd umgefallen war und ihn beim Hören der Nachrichten störte: „Du Trampel. Ich rackere mich Tag für Tag in der Praxis ab, mit all den Idioten. Aber die größte Idiotin bist du. Du gönnst mir meine Ruhe nicht. Ich sorg irgendwann dafür, dass du niemanden mehr störst.“

Davor war es das Fenster, das gekippt war, so dass es ihm in den Nacken zog: „Du bist gemeingefährlich. Soll ich etwa krank werden? Ist es das, was du willst, mich umbringen? Da musst du früher aufstehen, du Schlampe!“

Davor…. Sie hatte es vergessen. 

Nike saß auf der Bettkante und drehte sich zu ihm um. Sie sah ihn. Sie hörte ihn. Sie roch ihn. Sie spürte ihn. 

Bernd.

Sein Mund stand auf. Sein Atem klang blubbernd und unstet. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Nike saß völlig unbewegt auf dem Rand des Bettes und konnte ihren Blick nicht abwenden.

Seine Hände lagen auf der Bettdecke. Chirurgenhände hatte sie sie genannt, als sie ihm zum ersten Mal begegnete. Seine langen kräftigen Greifzangenfinger mit skalpellscharfen Nägeln. Chirurg war er nicht. Arzt schon. Psychiater. Er kannte sich aus mit der menschlichen Seele, er wusste, wo es wehtat. 

Er verschluckte sich an seinem Atem. Ein Atemzug setzte aus. Nike wollte ihren Herzschlag anhalten aus Angst, der könnte ihn wecken. Er durfte nicht aufwachen! 

Sie zwang sich, den Blick abzuwenden. So vorsichtig wie möglich erhob sie sich. Die Matratze gluckerte leise. Nike trat auf Zehenspitzen an den Schrank. Der Spiegel an der glänzend polierten weißen Schranktür schimmerte. Durch die Lamellen der Jalousie fiel der Schein der Straßenlampen. Die chromglänzenden Oberflächen der Nachttische vervielfältigten die wenigen Strahlen zu einem diffusen, schattenschluckenden Licht. 

Nike betrachtete die Frau im Spiegel. Ihr Gesicht schattierte zwischen Grün und Blau, ihr linkes Auge war zugeschwollen. Unter dem Auge glitzerte eine nässende Wunde. Die Unterlippe war blutverkrustet und in ihren Haaren fehlte ein ganzes Büschel.

Bernd.

Sie hatte ihn geliebt, bewundert, verehrt. Wie Richard Gere in Pretty Woman, der Ritter auf seinem Ross, so hatte er auf sie gewirkt. Und wie er reden, wie er schmeicheln konnte. 

Und wie er um Verzeihung bitten konnte. Er hatte so viele Worte, mit denen er einlullte. Mit denen er schwor, es wäre das letzte Mal, es würde nie wieder vorkommen.

Nike bot all ihre Kraft auf, um sich nicht umzudrehen und ihn wieder ansehen zu müssen. Sie hatte Angst, sein Anblick würde ihr das letzte Quäntchen Mut, die letzte Faser ihrer Würde nehmen und sie würde vollends zu dem werden, für das er sie hielt: der Dreck unter seinen Füßen. 

Ihr Blick glitt an ihrem Spiegelbild hinunter. Auf ihrem Oberschenkel war eine Narbe wieder aufgeplatzt. Ihr linkes Knie war angeschwollen, der Schmerz pulsierte darin. 

Nike atmete ganz flach, sie durfte keinen Laut machen. 

Das bin ich nicht. Nike suchte in den Augen der Frau im Spiegel nach der Frau, nach dem Mädchen, das sie einmal gewesen war. Sie suchte nach dem Liebling ihres Vaters, nach der Tochter, der Schwester. Sie suchte, aber sie fand keine Spur von ihrem früheren Selbst. Ihre Augen waren leer, ihr Haar stumpf wie das Fell einer alten müden Eselin. 

Bernd.

Sie war nur noch das, was sich in seinen Augen spiegelte. Seine Komplimente hatten sich mit der Zeit gewandelt. Aus „Wie schön du bist. Dein Haar ist so weich und wie seidig es schimmert,“ wurde „An jedem deiner Haare klebt die Dämlichkeit wie Fett.“ Aus „Deine Haut ist so zart und fein, du duftest wie Honig,“ wurde „Aus jeder Pore von dir dünstet nichts als Unfähigkeit und Nutzlosigkeit.“ Seine Komplimente waren immer etwas Besonderes. 

Nike griff in den Kleiderschrank und zog ganz vorsichtig ein Hemd und eine Leggins aus dem offenen Fach, hob ihre Schuhe vom Boden. Sie schlich Zentimeter für Zentimeter zur Tür des Schlafzimmers. Jeder Schritt kam ihr vor als müsse sie einen ozeanbreiten Graben überwinden. Jeder Millimeter ihrer Haut war gespannt wie das Fell auf einer Trommel.

Sie wusste, dass es nicht möglich sein würde, die Tür völlig geräuschlos zu öffnen. Schweißperlen rannen ihr von der Stirn in die Augen und brannten dort wie Säure. Sie wegzuzwinkern fehlte ihr die Kraft.

Nike erreichte die Tür. Vom Bett erklangen die blubbernden Atemzüge. Behutsam wie eine Libelle die Wasseroberfläche berührte Nike die Türklinke und drückte sie im Zeitlupentempo herunter. Das Quietschen des Türgriffs fuhr ihr durch alle Zellen ihres Körpers.

Ohne zu atmen hielt sie inne, erwartete seine Stimme, sein Brüllen, war bereit, sich vor ihm auf den Boden zu werfen. Sich zu ergeben.

Bernd.

Er atmete weiter und rührte sich nicht. 

Nike zog die Tür soweit auf, dass sie gerade so hindurch schlüpfen konnte. Beinahe hätte sie vergessen, dass die Schlafzimmertür einen Schließer hatte. In der letzten Zehntelsekunde konnte sie das Zuschlagen der Tür abfangen. Alle ihre Muskeln zitterten wie unter Strom, fast hätte sie ihre Kleider fallen lassen. So behutsam sie konnte, ließ Nike die Schlafzimmertür hinter sich ins Schloss gleiten. 

Jetzt wagte sie zum ersten Mal, wirklich zu atmen. Sie ging einige Schritte über den Flur, der dicke weiße Teppich verschluckte jedes Geräusch.

So schnell es ihr möglich war, zog sie ihr Hemd über den Kopf und kroch in die Hose. Ein Schmerz von 1000 Volt schoss durch ihren Rücken, dort wo er ihr in die Niere getreten hatte. Nike schnappte nach Luft, ein winziger, winziger Schrei entwich. Sie schlug die Hand vor den Mund. Zur Skulptur gefroren stand sie, wartete. Wartete auf ihn. Darauf, dass er sie fand, sie aufhielt.

Bernd. 

Ihre Hand krallte sich um die Klinke der Wohnungstür. Der Schlüssel steckte von innen. Die vielen Schlüssel am Bund klirrten leise, als sie die Tür aufschloss.

Aus dem Schlafzimmer drangen Husten und das Knarren des Bettes. Nike starrte hypnotisiert zur Schlafzimmertür, traute sich nicht vor und nicht zurück. 

Doch es rührte sich nichts mehr. Mit leisem Pfeifen entwich ihr Atem. Ihre Nerven vibrierten wie Hochspannungsleitungen. Ihre Muskeln folgen widerwillig den Befehlen ihres Hirns. 

Halt!

Gerade als sie die Wohnungstür weit genug geöffnet hatte, um sich hindurch zu quetschen, fiel ihr die Karte ein. Sie musste sie mitnehmen. Sie musste wissen, wohin sie gehen sollte. 

Das kleine gefaltete Papier, das sie in der letzten Ambulanz bekommen hatte. Die Ambulanz in großer Entfernung von zu Hause. Denn bei denen in der Nähe war sie schon gewesen. Sie durfte nicht zweimal zum selben Arzt oder Krankenhaus. Das hätte Fragen, Untersuchungen nach sich gezogen. 

In Bielefeld, Gütersloh und Paderborn war sie schon überall gewesen. Nun also Detmold.

Eine Frau hatte ihr die Visitenkarte in die Hand gedrückt. „Nehmen Sie“, hatte sie gesagt, als Nike ihre verletzten Hände unter ihren Achseln versteckte, „Nehmen Sie. Ich bin sicher, irgendwann werden Sie sie brauchen.“

Irgendwann war jetzt.

Zum Glück hatte Nike die Karte mit der Telefonnummer im Flur unter dem Teppich versteckt. Sie fand sie sofort. Trotz ihrer Angst und des Fluchtdrangs blickte sie einen Moment auf das Foto einer Frau mit leuchtenden Augen und glänzendem Haar, die in die Kamera lachte.

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Nike erlaubte sich für die Dauer eines Wimpernschlags an diesen Traum zu glauben. Erlaubte sich, auf diese Utopie zu hoffen. 

Ihr Blick fiel in den Flurspiegel. Das da bin nicht ich, dachte sie wieder. 

Nike presste das Stück Papier an ihre Brust wie ein Schild. So leise sie konnte verließ sie die Wohnung.

Sie wollte daran glauben. 

Sie würde daran glauben. 

Sie würde lernen. Sich im Spiegel wiederfinden. Und zurückkommen. 

 

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