Von Anni Spreemann

Vorsichtig nehme ich die volle Tasse dunkelbrauner Flüssigkeit in meine Hand. Genieße die Wärme und den aufsteigenden Geruch, bevor ein winziger Schluck vom belebenden Getränk meine Lippen und Zunge benetzt. Früher habe ich den Kaffee mit Zucker und Milch getrunken. Heute genieße ich ihn in seiner reinsten Form. Jede Woche sitze ich zum Frühstück in einem Café. Entdecke die unzählige Vielfalt der Stadt. Eine kurze Auszeit, die ich mir einmal in der Woche, um das schmale Portemonnaie nicht zu strapazieren, gönne. Eine angenehme kühle Brise streichelt über meine Haut. Es ist Wochenende und noch früh am Morgen. Leer Straßen erzählen von ihren schlafenden Bewohnern. Die aufgehende Sonne zeichnet ihre Umgebung in weiche Konturen. Es riecht nach Sommer. Ich genieße den Moment der Vollkommenheit und möchte diese Leichtigkeit festhalten.

„Ist hier noch frei? Sie sind so dünn, da ist doch bestimmt noch Platz“, unterbricht ein ergrauter Herr mit Hut und Krawatte. Stört meine wohlverdiente Ruhe. Ehe ich richtig zur Besinnung komme, legt er sein Buch auf den Stuhl zwischen uns und setzt sich. Mein Kiefer verspannt sich und ich unterdrücke den Wunsch ihn wegzuschicken. Das wäre unhöflich. Schließlich ist das ein öffentlicher Raum. Die gesamte Terrasse ist leer. Warum will er hier sitzen? Eine Wolke Rasierwasser schwebt mir entgegen.
Der Kellner kommt strahlend herbeigeeilt. „Wie immer? Kaffee und den Tageskuchen?“
Der Herr nickt und legt seinen Hut auf den Tisch. Ist er hier Stammgast? Nachdem ich mich beim Starren ertappe, blicke schnell zum Park. Ein junger Spatz hüpft, auf der vergeblichen Suche nach Brotkrumen, die Tisch- und Stuhlbeine entlang. Ich konzentriere mich auf das kleine Geschöpft und probiere den Alten neben mir zu vergessen. Überdecke sein Eau de cologne mit meinem Kaffee unter der Nase. Will meinen Moment der Einsamkeit und Ruhe zurück.

Ein leises Rascheln stört meinen Versuch. Genervt schiele ich rüber. Der alte Herr kramt in seiner Jackentasche. Er findet sein Handy, hält es auf Armlänge und bewegt still die Lippen. Irgendwann tippt er darauf herum und stöhnt.
Unbemerkt stellt der Kellner seinen schwarzen Kaffee und ein riesiges Stück Erdbeertorte auf den Tisch. Die Sahne glänzt und der Duft von Erdbeeren erreicht meine Nase. Ich schlucke die Spucke in meinem Mund hinunter. Der Alte erblickt sein Essen und seine Augen wandern zwischen Gabel und Handy hin und her. 

Unsere Blicke treffen sich. Ertappt betrachte ich interessiert den Vogel. Er zwitschert vorwurfsvoll in unsere Richtung. Der Stuhl drückt und ich suche eine angenehmere Position. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie der Mann sich in meine Richtung beugt. „Entschuldigung?“
Zögernd drehe ich mich um. Warum muss er meine Ruhe stören. „Ja?“, frage ich spitz.
„Können Sie mir helfen?“
Ich lächle unverbindlich. „Vielleicht?“
„Es tut mir leid. Mein Enkel hat mir über WhatsApp ein paar Bilder geschickt, aber ich kann sie nicht öffnen. Hier funktioniert das seltsamerweise nicht. Normalerweise macht das mein Sohn für mich… der kommt morgen. Könnten Sie …?“
Er hält mir sein Display hin. Der Bildschirmhintergrund zeigt einen Hund. Müssen alte Leute immer Hunde haben? Meine Eltern haben sich einen Mops angeschafft. Als ich mich darüber beschwerte, haben sie gelacht und meinten: „Das letzte Kind hat Fell.“
„Es wäre sehr liebenswürdig von Ihnen“, ergänzt der Alte, schaut mich mit seinen hellgrauen Augen an und hält mir sein Handy noch näher vors Gesicht. Ich fühle mich mies, weil ich ihn wegen seines Hundes verurteile, nehme es und schaue kurz nach der Verbindung. Der alte Mann nutzt seine freigewordene Hand, lässt die Zinken in den weichen Biskuitteig eintauchen und isst.
„Sie sind nicht im Netz“, erkläre ich ihm kurzangebunden.
„Ich verstehe nicht. Ich bin nicht im Netz?“
Ich beiße mir kurz auf die Unterlippe. „Damit Sie WhatsApp benutzen können, brauchen Sie eine Internetverbindung. Entweder verwenden Sie Ihre mobilen Daten oder das WLAN des Cafés.“
„Das Café hat WLAN?“, fragt er zwischen zwei Bissen.
Ich zeige auf das Hinweisschild am Eingang. Er nimmt seine Brille raus, setzt sie auf und geht hin. Mir ist es peinlich und schaue auf den Teller. An seiner Erdbeertorte fehlt die Spitze. Die Gabel reflektiert das einfallende Sonnenlicht. Er kommt zurück.
„Interessant. Kann mein Handy auch das WLAN verwenden?“
Ich zeige es ihm und erkläre, dass es in den meisten Restaurants möglich ist.

„Kann mich sich gefahrlos mit einem fremden WLAN zu verbinden?“
Ich schaue ihn an und überlege kurz ob ich ihm erkläre, dass eine VPN Verbindung besser wäre. Andererseits verwendet WhatsApp end to end Verschlüsselung. Vor meinen inneren Augen sehe ich ein riesiges Fragezeichen in seinem Gesicht und entscheide mich dagegen.

„Solange Sie nicht Online-Banking machen, geht das in Ordnung“, sage ich und beobachte, wie er weiter das klebrige Zeug in sich hineinschaufelt. Sind ihm die viele Kalorien in seine Torte überhaupt bewusst?
Ein Schauer läuft mir über den Rücken und mir wird schlecht. Schnell verbinde ich das Handy und ein Bild erscheint. Fünf schlanke gutaussehende Jungs, deren Haare vom Wind zerzaust und Wangen gerötet sind. Sie strahlen alle in die Kamera und der mittlere mit den gleichen hellgrauen Augen hält einen riesigen Fisch in den Händen. Ins Netz gegangen, steht in der Bildbeschreibung. „Ist der in der Mitte ihr Enkel?“, frage ich neugierig.
Der Alte nickt begeistert. „Sieht er nicht gut aus? Die Auszeit scheint ihm gut zu tun. Wir sind alle sehr stolz auf ihn.“
„Was macht er dort?“, frage ich und starre auf den Fisch.

Er glänzt und ist mindestens 30cm groß. Ich hasse Fisch. Warum können Leute nur gefallen am Angeln finden? Er schluckt seinen Bissen herunter

„Er ist für einige Wochen in Dänemark und lernt dort wie ein Wikinger zu leben. Sie bauen Lehmhäuser, Fischernetze, färben Wolle und lernen die Grundlagen vom Weben, Tischlern und sogar der Schmiedekunst. Sie leben in einem Freilichtmuseum und zeigen den Touristen ihr erworbenes Wissen. Er hat Glück, dass er dabei sein darf. Es ist ein internationales Projekt und es werden Betroffene aus Europa aufgenommen“, erzählte er stolz und wischt sich kurz mit der Serviette über den Mund.
Seine Geschichte klingt märchenhaft. Dann werde ich stutzig. „Betroffene. Wovon war er betroffen?“
Der graue Herr macht sein Handy aus und packt es weg. „Nicht wichtig. Es geht es ihm besser.“
Er wirkt verlegen oder vielmehr abweisend. Habe ich was Falsches gesagt? Er hat doch angefangen um Hilfe zu bitten und über seinen Enkel erzählt.
„Kann ich Sie als Dankeschön auf ein Stück Erdbeertorte einladen?“, fragt er zögernd und deutet auf seinen Teller.
Entsetzt schüttle ich den Kopf. Er schaufelt die letzten Happen Erdbeertorte in sich hinein. Wie kann man nur so schlingen? Schmeckt er die fettige Sahne, den süßen Teig und die fruchtigen Erdbeeren? Einige Krümel fallen herunter und der Spatz stürzt sich darauf. Ob die Krumen zum sattwerden reichen? Der alte Herr pickt mit seinen Fingern die Teigreste auf und ein erneuter Ekel überkommt mich. Es fehlt nur noch, dass er den Teller ableckt.
In einem Schluck trinkt er den Kaffee aus und legt großzügig einen Fünfer auf den Tisch. Beim Aufstehen fallen Kuchenreste von seinem Hemd auf den Fußboden. Ich höre ein Räuspern und betrachte nochmal die hellgrauen Augen des alten Mannes. Sie sind mit Lachfalten verziert und strahlen Liebe als auch Kummer aus.
„Vielen Dank, dass ich mich neben Sie setzen durfte und Sie mir geholfen haben. Sie sind nett und erinnern mich an meinen Enkel“, sagt er, greift nach seinem Hut und spielt mit dessen Krempe. Er steht auf und ich habe endlich gleich wieder meine Ruhe. Erleichtert lasse ich die Schultern sinken. Der Herr zeigt auf den Stuhl zwischen uns. „Das Buch brauche ich nicht mehr. Vielleicht hilft es Ihnen mehr als mir.“, sagt er, setzt seinen Hut auf und läuft zügig die Straße hinunter.
Verwirrt starre ich auf die leere Kaffeetasse und den Teller, welcher mit Spuren von Erdbeergelee bedeckt ist. Anschließend bemerke ich meine kalte aber noch volle Kaffeetasse in der Hand. Auf dem Holzstuhl erblicke ich den unscheinbaren Buchrücken. Vorsichtig stelle ich die Tasse ab und strecke meine dürren Finger danach aus. Ein Flyer rutscht heraus und ich muss mich danach bücken. Mit klopfenden Herzen und angehaltenen Atmen lese ich die Überschrift: „Historisches Freilichtmuseum in Dänemark mit Klinikbetreuung. Für Jugendliche mit Essstörungen.“ Mein leerer Magen knurrt, ich drehe das Buch um und erkenne mich voller Unbehagen im Buchtitel wieder:

„Engel dürfen keinen Hunger haben.“