Von Andreas Schröter

Na, kennen Sie mich noch? Adam Schneider, der letzte noch lebende Mensch auf Erden, der jemals im Weltraum war. Sie können sich also ab sofort etwas einbilden: Adam Schneider persönlich hat zu Ihnen gesprochen. Nein, Quatsch, das war nur Spaß, so egozentrisch bin ich nun auch wieder nicht. Aber es stimmt schon: Seit dem Tod von Greg Shelter im vorigen Jahr bin ich tatsächlich der Letzte meiner Art. Zu schade, dass die Weltraumprogramme 2040 nach der Corona-II-Epidemie weltweit eingestellt worden sind. Aber ich verstehe das. Man war der Ansicht, es sei besser, das Restgeld für die Pandemie-Bekämpfung auszugeben. Ist ja auch richtig.

Ich bin jetzt 92 Jahre alt und werde sicherlich auch nicht mehr ewig auf dieser Erde weilen. Deswegen möchte ich gerne noch eine kleine Geschichte loswerden, an die ich in letzter Zeit häufig denken muss. Und wenn meine Asche erst in der Urne ist, kann sie keiner mehr erzählen. Aber vielleicht ist diese Geschichte auch völlig unbedeutend, ich hab keine Ahnung.

 

Also, es geht los – 62 Jahre früher, im Jahre 2038:

Als die Anomalie, von der ich Ihnen erzählen will, auftrat, waren wir seit etwa viereinhalb Jahren im All unterwegs. Fünf Jahre sollte unsere Mission dauern. Für die Rückkehr zur Erde hatten wir etwa vier Monate eingeplant. Die Aufgaben, die man uns aufgetragen hatte, hatten wir alle erledigt, also blieben uns noch etwa zwei Monate, in denen wir tun und lassen konnten, was wir wollten. Wir entschieden uns dafür, einfach volle Kraft voraus ins Unbekannte zu gleiten, also in den Raum, für den es keine gesicherten Infos mehr gab. Ein Okay hatten wir dafür von der Erde nicht, aber wir waren so weit weg, dass es eh schon lange keine Kommunikation mit der Heimatbasis mehr gegeben hatte. Also what shall’s. Was sie nicht wissen, macht sie nicht heiß.

Aber ganz ehrlich? Ich hätte auch darauf verzichten können. Vier Jahre und ein paar Zerquetschte auf unserer „Enterprise“, die eigentlich „Explorer III“ hieß, sind eine verdammt lange Zeit. Ich sehnte mich nach Wanderungen in den Alpen und Kite-Surfen an der Nordsee. Aber es hätte blöd ausgesehen, früher zurückzukommen. Wir mussten für die Weltöffentlichkeit (und die Geldgeber) so tun, als würden wir unser Abenteuer bis zum letzten Augenblick in vollen Zügen genießen. Und das hatten wir auch getan – nicht dass hier irgendwie ein falscher Eindruck entsteht. Wir hatten die legendären feingliedrigen Bewohner von Teros getroffen, deren Frauen … naja, lassen wir das …, wir waren auf Taurus 5 gewesen, dessen gesamte Struktur angeblich nur von Drachenbeinen zusammengehalten wird. Na, ich kann Ihnen sagen – aber das ist ja inzwischen allgemein bekannt –, unser Röntgen-Scan erbrachte nichts Gutes. Und wir haben sogar einen dieser extrem seltenen Weltraum-Wale gesehen. Ich frage mich, wie die Biester sich fortpflanzen, wenn es nur alle paar Lichtjahre mal einen gibt, und wo sie ihre Sauerstoffvorräte für ihre Weltraumreisen speichern.

Aber ich schweife ab, sorry! Irgendwann – wir drifteten gerade mit Höchstgeschwindigkeit durch den Raum – meinte Greg: „Meldung an Captain Kirk, wir werden langsamer.“ Wie wir alle wissen, heiße ich nicht Kirk, und natürlich redeten wir nach Jahren des Zusammenlebens auf engstem Raum nicht so formalistisch miteinander. Aber manchmal sprachen wir uns zum Spaß mit den Namen der Figuren aus einer alten Fernsehserie an, die heute keiner mehr kennt.

„Scottie, red keinen Stuss“, antwortete ich gelangweilt.

Greg sagte nichts, aber er brachte den Geschwindigkeits-Messer auf den Riesen-Display. Und ja, Scheiße, die Nadel bewegte sich nach unten. Was sollte das?

„Mehr Power!“

„Geht nicht, wir sind am Anschlag. Die Maschine ist temperaturmäßig im Grenzbereich.“

In den folgenden Minuten passierte wenig, außer dass die Geschwindigkeit der Explorer III stetig weiter sank. Wir hatten die Maschine nicht gedrosselt. Und irgendwann bewegten wir uns gar nicht mehr.

„Greg, was ist das? Stimmt was mit dem Geschwindigkeitsmesser nicht.“

„Ich habe absolut keine Ahnung. Geschwindigkeitsmesser ist okay.“ Uns war die Lust auf unsere Albernheiten vergangen. Wir starrten beide mehrere Minuten in den offenen Weltraum vor uns, ohne ein Wort zu sagen. Fast sah es so aus, als würde er etwas heller wirken als sonst, aber das konnte eine optische Täuschung sein. Was war da vor uns?

„Umgebungsscan durchführen!“

Greg Shelter hantierte an seinem Screen und sagte weiter nichts – und dann doch: „Adam, es sieht so aus, als würden wir von unsichtbaren, aber unfassbar starken Traktorstrahlen gehalten. So etwas habe ich noch nie gesehen. Fast wirkt es so, als seien wir in eine Art gigantisches Spinnennetz geraten.“

Ich starrte ihn an.

„Heißt das“ – und ich traute mich das Folgende kaum auszusprechen –, „wir sitzen hier fest?“

Greg zuckte unmerklich mit den Schultern. Er wirkte plötzlich sehr blass.

Nun, die Antwort auf meine Frage würden wir gleich haben. „Rückwärtsschub! Volle Kraft!“, befahl ich. Mit einer unglaublichen Langsamkeit setzte sich unser Schiff in Bewegung, und der Geschwindigkeitsanzeiger bewegte sich wieder ganz leicht nach oben. Wir sahen uns an, und die Erleichterung stand wohl jedem von uns ins Gesicht geschrieben.

Ich schaltete das Mikro ein und informierte unsere 50-köpfige Mannschaft grob über die Ereignisse, ohne zu erwähnen, dass Greg und ich kurz echte Angst gehabt hatten. Die folgenden Tage vergingen damit, das seltsame Phänomen irgendwo im Nirgendwo genauer zu erforschen. Wir fanden heraus, dass das Netz aus Traktorstrahlen einen quadratischen Würfel bildete, dessen Länge, Höhe und Breite jeweils rund ein Lichtjahr betrugen. Welche unfassbar gigantische Energiequelle vermochte es, ein derartiges Konstrukt aufrecht zu erhalten? Und vor allem: Was schützte dieses überdimensionale Spinnennetz im All? Was war im Innern dieses Netzes?

Knapp sechs Monate später setzten wir irgendwo im Pazifik auf, und für uns begann ein Marathon aus Fernsehauftritten, der Teilnahme an irgendwelchen Sponsoren-Terminen und wissenschaftlichen Konferenzen. Wir hatten in den vorherigen fünf Jahren derart viel erlebt, dass wird getrost die kleine Episode gegen Ende aussparen konnten. Wie gesagt: Die Basis hatte es uns aus Sicherheitsgründen eigentlich strikt verboten, den bekannten Raum zu verlassen. Zwar gebe es einen gewissen Reiz, dies aus Forschungsgründen zu tun, so hatten sich die Verantwortlichen vor der Reise ausgedrückt, aber die Sicherheit der 52-köpfigen Besatzung habe eben Vorrang. Ich hielt das schon damals für völligen Nonsens. Wofür ist ein derart schweineteurer Weltraumflug gut, wenn nicht auch dafür, ins Unbekannte vorzudringen? In erster Linie sogar. Nun ja, egal.

 

So, entspannen Sie sich, wir sind wieder in der Gegenwart, im Jahr 2100.

Sie werden sich vielleicht fragen, warum ich gerade jetzt an dieses riesige Weltraum-Spinnennetz von damals denke, von dem niemand außer mir etwas weiß. Denn auch alle damaligen Besatzungsmitglieder, die damals ohnehin nicht alles mitgekriegt hatten, sind mittlerweile tot.

Sicher haben Sie in vor einem halben Jahr diese Sensationsmeldung gehört – ich meine, gibt es unter den 15 Milliarden Erdbewohnern einen einzigen, der sie nicht gehört hat? Also ich meine natürlich diese Jahrtausend-Entdeckung in irgendeinem unterirdischen halb verschütteten Kellerverlies in Palästina: die Tafeln mit den zehn Geboten, die Gott angeblich Moses überreicht haben soll. Glauben Sie an sowas? Ich nicht. Irgendein *Mensch* von damals hat an einem anderen *Menschen* von damals diese Tafeln gegeben. Und weil die Autoren der Bibel einen Hang zum Drama hatten wie jeder gute Autor, haben sie das Ganze etwas gehottet. Oder nicht? Schließlich sollte das bildungsferne Volk von damals das Ganze ja auch schlucken.

Interessant finde ich, dass solche Sachen dann doch irgendwann gefunden werden. Ich mein, die Bundeslade ist ja auch vor 25 Jahren oder so aus der Versenkung aufgetaucht. Und sogar dieser Kelch, aus dem Jesus beim letzten Abendmahl getrunken hat – der Heilige Gral. Ein chinesischer Geschäftsmann, der gar kein Christ war, hatte ihn in einem Tresor in seinem Riesen-Wohnzimmer gebunkert. Wahrscheinlich hat der Typ ihn immer rausgeholt, wenn er irgendwelche Frauen beeindrucken wollte: „Hey, Baby, schau mal, was ich hier habe. Schon komisch, wenn man bedenkt, dass schon Jesus daraus getrunken hat.“ Dann sind die Frauen entweder in Ohnmacht gefallen oder haben ihre Bluse geöffnet. Wahrscheinlich war dem Chinesen Letzteres lieber.

Na ja, wie dem auch sei, mich hat mehr etwas anderes interessiert, was ebenfalls in dem palästinensischen Kellerverlies gefunden wurde: ein paar andere Steintafeln mit irgendwelchen Hieroglyphen. Die Forscher haben bis zur vorigen Woche gebraucht, sie zu übersetzen, und sie sind sich nicht einig, was sie bedeuten. Einige wollen sowas wie „Wohnstatt Gottes“ herausgelesen haben, andere „Himmel“ oder „Sehnsuchtsort“ – auch „Stadt der Engel“. Kann das denn so schwer sein? Im Folgenden gibt es angeblich noch Zahlen: 8 45 9 -16 42 58, mit denen aber niemand etwas anfangen kann. Mich haben diese Zahlen an irgendetwas erinnert, und ich habe mal meine alten Aufzeichnungen von dem Raumflug vor 38 Jahren herausgekramt. Und in der Tat – mein Gedächtnis ist offenbar trotz meines Alters noch intakt, was mich freut. Wenn man die Zahlen, die die Forscher gefunden haben, um ein paar Angaben ergänzt, ergeben sich Weltraumkoordinaten: Rektaszension 8h 45m 9s | Deklination -16° 42′ 58″. Und das sind exakt die Koordinaten des Raums im All, der von diesem gigantischen Spinnennetz aus Traktorstrahlen geschützt war.

Ich frage Sie noch mal: Glauben Sie an dieses ganze Gott-Gedöns? Ich nicht. Aber ich muss zugeben, dass mich diese Entdeckung doch ein wenig nachdenklich macht.