Von Marie Masse

Heute wacht die siebenjährige Lia auf, noch ehe ihre Mutter sie weckt. Sonst findet sie immer, dass das Aufstehen um 7 Uhr zu früh ist. Aber an solch einem Tag hält sie es nicht mehr im Bett aus. Denn heute darf Lia wie jedes Jahr im Juli zum Zirkus gehen. Der gastiert wieder in der Stadt.

Dass sich alle Kinder darauf freuen, das weiß sie. Dennoch fühlt es sich für sie anders an, denn sie wird ihren Onkel, den Bruder ihrer Mutter, bei der Nummer der fliegenden Trapeze bewundern dürfen. Das ist immer der Höhepunkt der ganzen Vorstellung. Bruno ist in ihren Augen ein Held, wie er in der Luft wirbelt und immer wieder eine Sekunde lang zu schweben scheint, bevor er gekonnt von seinem Partner gefangen wird. Sie hat ihn noch nie patzen sehen. Im Netz unter ihm landet er nur, wenn er sich am Ende der Nummer bei einem letzten Flug fallen lässt.

Vor und nach der Vorstellung schwärmt sie davon und träumt laut, auch eine solche Kunst zu erlernen. Dabei weiß sie, dass sie ihre Mutter verärgert. Aber Lia versteht nicht warum. Carola ist sonst eine liebende Mutter, die ihr viel erlaubt, der sie viel erzählen kann: wie ihr Tag in der Schule oder bei der Tanzstunde war, wie sie sich mit ihren Freundinnen gut versteht oder sich gezankt hat, sogar für ihre verrückten Träume zeigt Carola Verständnis. Aber den Zirkus scheint ihre Mutter zu hassen. Wie kann das sein, wenn sie die einzige in der Familie ist, die nicht dort arbeitet?

Gut, die Familie ist zwar nicht groß: ihr Onkel, seine Frau und ihre zwei Söhne, und der Großvater, der weiter mitreist, obwohl er schon sehr alt ist und nur noch als Techniker am Boden arbeiten darf. Die Familie ihres Papas hat mit Zirkus gar nichts zu tun. Deshalb darf Lia nicht in solch einem schönen Wohnwagen wie ihre Cousins wohnen, wie sie reisen und vor allem wie sie Kunststücke üben. Nicht mal darüber sprechen kann sie richtig. Wenn sie fragt, wird sie überhört oder einfach mit nichtssagenden Antworten abgespeist. Warum denn?

*

Zehn Jahre später

Der so sehr herbeigewünschte Tag ist endlich da. Nach drei Jahren Intensivtraining darf Lia heute Abend zum ersten Mal als Artistin auftreten, an der Seite ihres Onkels und der beiden Cousins, die nun alt und geübt genug sind.

Und am Ende der Woche, wenn der Zirkus weiterzieht, wird auch sie dabei sein. Das zu dürfen war ein harter Kampf gegen den Willen ihrer Mutter. Mit neun hat sie zu betteln angefangen, sie wolle in die Zirkusschule. Erst fünf Jahre später ging ihr Traum in Erfüllung… nach einem Abend, der ihr und ihren Eltern immer in Erinnerung bleiben wird. Denn endlich hatte sie verstehen können, warum sich ihre Mutter dagegen gewehrt hatte, dass Lia Trapez fliegt. Und Lia glaubt zu wissen, dass auch für Carola das damalige Gespräch etwas Befreiendes hatte.

*

 

An jenem Abend, als die vierzehnjährige Lia nach ihrer Tanzstunde nach Hause kam, wollte sie gleich in ihr Zimmer hochlaufen. Wie meistens nach dem Training spürte sie gleichzeitig Zufriedenheit, das Tanzen mochte sie ja, und Frustration, sie hätte so viel lieber Zirkusakrobatik gelernt. Ihr Groll gegen ihre Eltern wurde immer stärker: Wieso konnte ihre Mutter nicht einsehen, dass ihr Wunsch keine Eintagsfliege war, keine Träumerei eines kleinen Mädchens, das sich nach Pailletten und Spotlight sehnt? Ja, es war gefährlich, klar, aber im Leben war es halt so, Gefahren gab es auch im Alltag und viele davon konnte man noch weniger kontrollieren als bei einem gut gedachten Akrobatiktraining.

Sie ging gerade an der Küche vorbei, als sie ihre Eltern diskutieren hörte. Ihr Vater war sonst selten schon da um diese Zeit. Überrascht hielt sie inne, denn es schien ein ernsthaftes Gespräch über sie zu sein.

„Ich verstehe dich, Carola, aber du musst Lia loslassen oder ihr erklären, warum du so sehr Angst hast. Sie wird sich vielleicht doch weiter wünschen, zum Zirkus zu gehen, aber zumindest versteht sie dann, warum du sie nicht bei ihrem Projekt unterstützen kann. Du fühlst dich immer schuldig, es ihr nicht zu erlauben, und du weißt oft nicht mehr, mit welchen Argumenten du sie davon abhalten willst. Aber das wirst du nicht ihr Leben lang machen können, und wenn sie doch zur Truppe geht, findet sie irgendwann die Wahrheit heraus. Was denkst du, wie sie sich fühlen wird?“

Lias Gedanken überschlugen sich: die Wahrheit? Welche Wahrheit?

„Max, wie kann ich meiner Tochter erklären, dass ich das Leben eines ungeborenen Kinds, ihr Leben, auf Spiel gesetzt habe, weil ich vom Trapezfliegen so besessen war?“

Was? Ihre Mutter war früher mal Trapez geflogen? Lia überlegte fieberhaft: Sie wusste, dass ihre Mutter mit ihrer ganzen Familie im Zirkus großgeworden war, das war auch selbstverständlich, aber bis jetzt hieß es immer, Carola wäre nicht begabt genug gewesen und ihr Vater hätte sehr schnell eingesehen, dass sie keine Artistin werden konnte und sie in Ruhe gelassen, als sie ihr Glück außerhalb der Künstlerwelt suchte.

Und was hieß hier „ihr Leben auf Spiel gesetzt“? Lia zögerte kurz und entschied sich für eine Konfrontation. Sie wollte gleich Klarheit, sie wich nie vor Unangenehmem zurück, und sie hätte sich sonst vielleicht noch alles schrecklicher ausgemalt als es war.

Sie riss die Tür auf, blieb dann stehen und guckte ihre Mutter an, die am Küchentisch saß und leise weinte, während ihr Vater daneben ihre Schulter streichelte.

Carola hob den Blick kurz und beugte dann den Kopf wieder.

„Mama, was ist? Was soll ich endlich erfahren?“

Ihr Vater zog einen Stuhl vom Tisch weg. „Setz dich und höre bitte deine Mutter bis zu Ende an. Es wird weder für sie noch für dich leicht.“

Stumm nahm Lia Platz. Ihre Mutter atmete tief und fing an zu erzählen.

„Es tut mir leid, dass ich dir immer verschwiegen habe, was damals passiert ist, vor vierzehn Jahren. Aber ich schäme mich. Ja, ich habe auch am Trapez gearbeitet. Ich habe nicht früh aufgehört, wie dir immer erzählt wurde. Und ich habe es sehr geliebt. Das Fliegen, das Spüren des Körpers, der sich rollt und dreht, die Herausforderung, immer schwierigere Figuren zu beherrschen, das Zirkusleben, die Auftritte. Dann habe ich deinen Vater kennengelernt. Wir wollten heiraten, aber vorher mochte ich bei der Sommertournee noch mitmachen. Unterwegs habe ich gemerkt, dass sich mein Körper veränderte. Ich habe es aber ignoriert. Obwohl mir die Figuren nicht so leichtgefallen sind wie sonst. Dann wurde mir klar, dass ich schwanger war. Ich habe mich gefreut, aber ich dachte, ich bin nur am Anfang, ich kann die Tour bis zu Ende machen. Ich wusste theoretisch, dass eine gewisse Gefahr besteht, habe mich aber darüber hinweggesetzt. Ich fühlte mich bei der Nummer so sicher … zu sicher, dachte, mir wird doch nichts passieren. Ich habe keinem etwas gesagt. Und dann geschah es: An einem Abend war ich bei der Drehung eines Saltos vielleicht nur eine Nanosekunde zu langsam, genau weiß ich nicht. Auf jeden Fall habe ich die Hände von Bruno nicht mehr rechtzeitig erwischen können und bin ins Netz geflogen. Ja, so was passiert oft, beim Training vor allem, und man wird immer dort aufgefangen. Aber ich bin falsch gelandet, habe einen harten Schlag im Rücken gespürt und gleich darauf ein Ziehen im Bauch. Für das Publikum sah es wahrscheinlich nicht weiter schlimmer aus als ein anderer Sturz. Nur dass ich nicht gleich aufgestanden bin. Da haben alle um mich herum verstanden, dass irgendwas nicht stimmte. Ich wurde vom Netz befreit und musste meine Schwangerschaft zugeben. Im Krankenhaus konnte man erst nach drei Tagen Entwarnung geben. Mit dem Embryo, mit dir, war wieder alles in Ordnung. Aber es war knapp gewesen und ich musste die restlichen Monate liegen. Denn, ja, Lia, du warst das kleine Wesen, das in meinem Bauch heranwuchs. Ich habe mir geschworen, dass ich mich nie mehr einer solchen Gefahr aussetzen würde, ich hatte für dich da zu sein, auch nach deiner Geburt.  Wenn ich ans Fliegen denke, spüre ich gleichzeitig, wie ein Gewicht mich nach unten zieht, und dann den Druck des Netzes auf meinem Körper. Aber vor allem die Angst um dich, die ich damals erfahren habe, schürt mir die Kehle zu.“

Carola hatte mit gesenktem Blick gesprochen. Sie blieb kurz still und sah dann zu Lia auf: „Ich weiß heute, dass mein Fehler von damals keinen Schatten auf dein Leben werfen darf. Wenn du mir verzeihen kannst…“

 

Eine Woche später flog Lia zum ersten Mal ins Netz: fallen lernen, die erste Übung eines langen, aber spannenden Trainings.

 

 

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